Machen wir eine Übung: jeder von euch kann Thomas Manns „Tod in Venedig“ (1912)[1] aus dem Regal nehmen oder sich aufs Tablet laden. Man muss den Mann nicht gänzlich mögen, wie ich, aber eine so großartige Erzählung sollte man heute besonders genau lesen. Vor allem das fünfte und letzte Kapitel. Wenn man, aus Zeitmangel oder Ungeduld, NUR dieses Kapitel liest und von der invasiven Liebesgeschichte abstrahiert, geschieht etwas unheimliches. Der bis zum Überdruss gegenwärtige Coronadiskurs der letzten Wochen und Monate wird zusammengedrängt auf wenigen Seiten so plastisch, so lebendig, dass man sich schon frägt, ob die Cholera-Infektion im herrlichen Venedig nicht doch das bessere Vorspiel zur globalen Farce der Pandemie war.
(Ich habe das ungute Gefühl, dass ich bei der Lektüre immer an Nietzsches Wiederkehr des immer Gleichen denken musste, weil sich unsere Zivilisation in einiger Hinsicht wirklich nicht so viel weiter entwickelt hat, aber das lass ich den Philosophen).
Es geht um eine komplizierte Liebesgeschichte, es geht um Zeitdiagnose, Kunstheorie – das gibt es heute ja auch noch, und es geht um eine Beobachtung, die heute fast anstößig realistisch wäre. „Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt…“ ((569/570) (was minutiös beschrieben wird, und während „Europa zitterte“, ging der Erreger schon in mehreren Mittelmeerhäfen an Land. Kommt CoVid nun aus China oder aus dem Labor und wer hat es bei welchem Flug wohin eingeschleppt? Bei den ersten Anzeichen schon fragen beunruhigte Sorgen „Man desinfiziert Venedig. Warum?“ – Der Spaßmacher antwortete heiser „Von wegen der Polizei! Das ist Vorschrift, mein Herr, bei solcher Hitze und bei Scirocco“ … Der Dialog geht weiter und man liest“ Ein Übel? … Ist der Scirocco ein Übel? Ist vielleicht unsere Polizei ein Übel? Sie belieben zu scherzen!“ (566). So lacht doch. Alles nur vorsorglich…Die vier Tyrannen Putin, Trump, Erdögan und Bolsonaro lachen (Monitor 18.6.2020), die haben verstanden, dass man nicht vorsorgen soll, sondern die Herrschaft ausweiten im Schutze der Seuche, die andern…wir andern…denkt an die Demonstrationen, den Streit der Virologen und die Gefährdung des Tourismus. „sie (die Behörde) vermochte ihre Politik des Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrechtzuerhalten“. (571). Ischgl. „der oberste Medizinalbeamte Venedigs, … , war entrüstet von seinem Posten zurückgetreten und kurzerhand durch eine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden“. (572). Brasilien. Der nächster Absatz ist zu lang in seiner Einführung in die Klassenkampfgeschichte der Seuche, also nur Brückenfetzen: „…die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit, dem Ausnahmezustand, …brachte ein gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor…antisoziale Triebe…Unmäßigkeit, Schamlosigkeit…ausschweifende Formen, wie sie sonst hier nicht bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen waren“. Mit ein paar Änderungen kann man hier Trumps Politik gegenüber den Coronakranken Nichtweißen, Nichtreichen, Nichtkonservativen der Wirklichkeit der Diskurse in den USA einschreiben.
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Cholera ist CoVid, ist nicht AIDS, ist nicht Ebola…1912 ist nicht 2020. Ach, das haben wir gar nicht bemerkt. Aber die Maßnahmen Venedigs sind nicht viel anders als in den meisten Ländern heute – isolieren, beschweigen, beschwichtigen oder hilflos zusehen, wie sie dem Infektionsgeschehen nichts entgegensetzen können; jedenfalls werden die Medien zensiert (damals verschwanden die Zeitungen von den Hoteltischen).
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Es gibt eine Menge CoVid-Romane, oft in Tagebuchform. Den meisten fehlt die Einbettung in das wirkliche Leben, also in Gefühle, Politik, Kommunikation, sie machen das Virus zur Ursache allen Leidens. Thomas Mann hatte Recht: die Cholera war ein Anlass, all diesen Ursachen die Wirkungen zur Prüfung aufzugeben, und koste es dasLeben
[1] Mann, T. (1986). Der Tod in Venedig. Die Erzählungen. Frankfurt, Fischer: 493-584.