Rasse grassiert

Allenthalben ist das Nadelöhr-Thema, durch das alles muss, jetzt Rassismus und die späte Einsicht, dass davon keine Gesellschaft frei ist, wenn sie sich auch noch so davon distanziert. Wie kompliziert das alles ist, kann man bei Jill Lepore nachlesen, der hervorragenden Historikerin der USA: „Diese Wahrheiten“ (Beck, 2020) (These Truths 2018). Es gab über Jahrhunderte vor und nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine nicht aufgelöste Dialektik von Freiheiten für die (männlichen, weißen) Bürger und der Praxis von Versklavung von Schwarzen. Nachwirkungen bis heute, und wer alles am Sklavenhandel und der Misshandlung beteiligt war, glaubt man heute kaum mehr. Aber man soll es wissen, z.B. am Jahrestag der Unabhängigkeit für den Kongo (als vor genau 60 Jahren der König Balduin noch den König Leopold, Repräsentant eines der schlimmsten rassistischen Systeme, gefeiert hatte: schließlich hätte die koloniale Beherrschung ja die Zivilisierung der Naturvölker mit sich gebracht). Und viel von diesem Argument steckt tatsächlich auch in den heutigen Rassismen, hochverpackt und kaum zu dekonstruieren, wenn man es nicht wahrhaben will…

Schuldbekenntnisse kennen wir zur Genüge: die sind beim Feminismus und bei der Umweltzerstörung nicht viel anders als jetzt beim Rassismus: als ob das bloße Eingeständnis – WIR HABEN UNS GEIRRT – etwas an den Folgen und am Weiterwirken der Diskriminierung änderte. Wie sehr die Ökonomie die Politik ausbremst, kann man bis heute nicht nur Im Kongo sehen oder in der sanften Behandlung unserer Wirtschaftspartner. Im Inneren wird das Problem dadurch abgeflacht, indem man zunächst die potenzielle Kritik als Generalverdacht ablehnt, und dann die einzelnen Vorkommnisse als „schwarze Schafe“ subjektiviert. Welch hübscher rassistischer Begriff, viel schlimmer noch als Negerkuss…

Der Generalverdacht ist ehrlicher. Der Begriff sagt nicht, dass alle Polizisten eine rassistische oder rechtsradikale Neigung haben, oder alle in der KSK, oder beim Verfassungsschutz. Aber er sagt, dass wir dort we3lche finden können, und es ärger ist, bei der Polizei, der Bundeswehr und bei den Diensten solche Rassisten zu finden als anderswo, weil der juristische Zugriff und die öffentliche Auseinandersetzung mit „Sicherheitsorganen“ schwieriger ist als mit anderen gesellschaftlichen Gruppen. Aber es hat sich in Politik noch nicht herumgesprochen, dass Verdacht keine Vorverurteilung ist. Das ist ein Problem der allgemeinen politischen Bildung.

Allein die jetzt wieder aufgerufenen Einzelfälle machen die flauschige Abwehr des Generalverdachts verdächtig (nicht nur in Deutschland, auch in Österreich). Der Alltagsrassismus beschränkt sich natürlich nicht auf die Sicherheitskräfte, aber sie manifestieren und vor allem exekutieren ihn besonders folgenreich, denn eigentlich sollte man ihnen ja vertrauen, damit sie uns schützen. Und die von ihnen misshandelten oder nicht geschützten Menschen sind ja Teile von uns (wenn nicht, dann folgen wir dem Muster, für das eben nicht nur AfD und FPÖ stehen, sondern viele Institutionen in anderen Bereichen).

Was mich dabei irritiert: so verständlich Denkmalstürze und Straßenumbenennungen sind, so gefährlich ist das Ausradieren aller rassistischen Belege der Vergangenheit, analog aller frauenfeindlichen, behindertenfeindlichen, kinderfeindlichen…weil es kurzfristig das Gewissen der Erben erleichtert, aber dann bleibt nichts mehr, über das man sich zu einer Änderung der Politik verständigen könnte. Der Kommentar macht aus den Worten Begriffe, aus den Kunstdenkmälern gesellschaftliche Aneignungsmöglichkeit…und aus Othello noch lange keine weiße Frau.

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Die Eindämmungspolitik gegen Corona ist (gewollt und ungewollt) rassistisch, sie trifft die Ärmsten und Ausgegrenzten härter als alle anderen, und die Ärmsten sind weniger weiß.

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