Freudlos schreibe ich heute diesen Blog. er war gestern schon fertig geschrieben, da stürzte mein PC ab. Freud hätte dafür eine Erklärung. So wie viele Erklärungen heute Freud-los sind, und daher nicht so gut wie sie sein könnten.
Freudlos, weil wir uns in diesen Tagen schwer von der Wiederkehr einer seltsamen Prüderie, die politisch so korrekt ist, dass man sich beinahe als Laienmitglied einer klösterlichen Weltgemeinschaft fühlt: nichts darf, kann, soll man sagen oder zeigen, das nicht die eine oder andere Gruppe, den einen oder die andere Einzelperson beleidigt, zurückstuft, diskriminiert oder gar ausgrenzt aus der Gemeinschaft, der anzugehören offenbar für alle, also auch die Angegriffenen erstrebenswert ist.
HALT. Dieser mein Text bisher könnte auch von a) Betroffenen b) wehleidigen Kritikunfähigen c) rechtsradikalen Selbstveropferern d) altmodischen linken Erfindern der politischen Korrektheit zweiter Ordnung e) schwer getroffenen Objekten berechtigter Angriffe stammen.
Na, vielleicht nicht: für manche dieser Gruppen ist der Text zu gut, aber man weiß ja nie.
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In der neuen ZEIT N° 29, 9.7.2020 steht auf Seite 45 ein Manifest: Widerstand darf kein Dogma werden. Verfasst von 152 Intellektuellen, von denen ich einige wahrhaft verehre, viele schätze, einige abscheulich finde und wenige ganz ablehne. Aber sie haben sich zusammengefunden, mit einem Aufruf gegen die Zensur. Ihr erstes schwer wiegendes Argument: „Aber Widerstand darf nicht – wie unter rechten Demagogen zum Dogma werden“ (Daher auch der Titel). So ein Dogma heißt bei Karl Marx Kritik der kritischen Kritik und will mit allem aufräumen, das Verhandlung und Politik ermöglicht. Zu Recht wendet sich das Manifest gegen das Ausspielen von Gerechtigkeit gegen Freiheit, „das eine ist nicht ohne das andere zu haben“. Klingt einfach, ist aber unendlich schwer: Wenn die Tatbestände so komplex sind wie Gender, Hautfarbe, sozialer Status, Integration…und wenn der Zugang zur politischen Verhandlung und zur Kommunikation nicht nur mit gleich Gesinnten objektiv und persönlich schwierig ist, ja, wie bekommt man Freiheit und Gerechtigkeit unter einen Hut und kann darüber etwas folgenreich sagen? Zensur, vorauseilender Gehorsam, Feigheit vor Konflikten, aber auch unmittelbare soziale Unsicherheit, vor allem aber die Drohung von all dem, behindern alle, die schreiben, denken, sich und ihre Werke darstellen, als Kunst und Arbeitsergebnis.
Schlagt bitte meine Blogs zurück, zweimal habe ich schon Ingeborg Bachmanns Gedicht ALLE TAGE aufgeschrieben, lest es, einmal, mehrmals. Ich schreibs wieder her, es erklärt fast alles:
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
(mehr davon: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/alle-tage-265)
Die 152 sagen weiter: „Unabhängig von den Details der einzelnen Fälle werden die Grenzen dessen, was ohne Androhung von Repressalien gesagt werden darf, immer enger gezogen“. Was für viele dazu führt, dass sie um ihren Lebensunterhalt fürchten müssen. Nicht nur bei den Drei Großen Diktaturen und vielen mittelgroßen autoritären Ländern, nein, auch bei uns droht diese Gefahr. Sie ist noch nicht so ausgeprägt wie in Russland, China und den USA, wie in der Türkei, Ungarn und und und…aber Seehofers Weigerung, in die rechtsradikalen Netzwerke der Polizei zu schauen, ist nur ein besonders bedenkliches Beispiel, weil es die Berechtigung von Generalverdacht statt differenzierter Betrachtung unterstützt. Sagen, was ist: das hat schon den Gottheiten der Religionsgründer nicht gefallen, das hat noch keinem Diktator Freude bereitet…Sagen was ist schließt auch die Möglichkeit des Irrtums ein, zu dem man stehen kann, wenn der Irrtum erkannt wird. Jetzt sollte man auch dabei vorsichtig sein.
Damit hängt zusammen, dass die neue politische Korrektheit meint, man könne ANTI-sexistisch, -kolonialistisch, – rassistisch etc. handeln, indem man einfach Straßen umbenennt und bestimmte Worte ächtet. Wo solche Handlungen richtig sind und wo sie einfach Geschichte auslöschen, bestimmen nicht die Meinungsführer, sondern der Kontext. Und den zu wissen gehört zu den wichtigen Elementen aufgeklärter, risikobereiter, wagemutiger und selbstkritischer Bildung. In vielen Ländern wird schon hier zensiert, wie sollen dann die heranwachsenden jungen Menschen wissen, wie man sich zum kritischen öffentlichen Menschen entwickelt?
Wegen des Kontexts bringe ich hier keine Beispiele, weil ein Blog keine vielfältigen Kontexte wiedergeben kann. Jeder einzelne Fall aber ist ein Fall für die Politik und für den Selbstschutz.