Erste Welle, zweite, dritte…

Man kann es sich nicht aussuchen. Ich werde nicht schon wieder über Corona schreiben, aber ich muss damit anfangen. Vor ein paar Tagen findet vor einem der teureren Restaurants im gutbürgerlichen Viertel von Potsdam eine Fete statt, vielleicht 20 Menschen, kein Mundschutz, kein Abstand, Alkohol und Geknutsche. Zwei Stunden später noch immer. Ich war vorbeigekommen und habe dem Denunziantendrang widerstanden, („natürlich“ = ? ist das so?), gehofft, das Ordnungsamt oder die Polizei käme vorbei. Die fuhr einmal vorbei ? (ich bin ja nicht Wache gestanden, sondern vorbeigegangen, nicht einmal zum Foto stehen geblieben), aber sie machte natürlich nichts. Wieder „natürlich“. Natürlich heißt nicht „selbstverständlich“.

Die Polizei weiß, wie breite Schichten der Bevölkerung von ihr denken. Ihre Anführer haben aber weder Stuttgart noch Frankfurt verstanden, noch gibt es eine erträgliche Diskussion zwischen General Verdacht und seinen Untertanen. Frau Kramp-Karrenbauer wünscht sich einen Heimatschutz, man denke!, und die rechten Netzwerke bei der Polizei und den anderen Sicherheitsbehörden werden untersucht, nicht zuletzt von den Truppen des Generals Verdacht. Mal sehen.

Warum sollen sich frustrierte Asylbewerber*innen und Eingewanderte (Übrigens: keineswegs nur Junge) nicht wehren, wenn sie sich herabgesetzt und diskriminiert fühlen oder wissen? Das ist schwierig zu beantworten, und es ist die Kehrseite von Racial Profiling.

Warum soll man zuschauen, wenn sich frustrierte Davongekommene der ersten CoVid-Welle ansaufen und herumlungern und sich für unsterblich halten (übrigens: keineswegs nur Junge)? Das ist die Dialektik von Freiheit und Verantwortung. 

Die Videoüberwachung, die der Kriminalpolizei-Vorsitzende Fiedler heute empfiehlt (27.7.2020), ist einerseits natürlich eine Zumutung der freien Gesellschaft, andererseits vielleicht hilfreich für die langsame Wandlung einer wiederkehrenden staatlichen Regelungsmacht, der sich die Bürger*innen eine zeitlang unterordnen, bis sie erneut und heftiger Widerstand leisten und randalieren.

Für beide Fragen gibt es keine einfachen Antworten.

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Ein wichtiger Begriff: das alles ist ambig. Das heißt, je nachdem in welchem System etwas sich ereignet, sieht seine Wahrheit anders aus. Auch wenn es die gleiche ist, ist es nicht dieselbe. In einem religiösen Kontext kann etwas durchaus gerechtfertigt werden, was rechtsstaatlich unmöglich und sozial eine Sauerei ist. Lassen wir es bei „doppeldeutig“. Ambiguität ist ein wichtiger Aspekt, die scheinbar einfachen Wahrheit genauer zu erfassen (und damit das Gegenteil von Trumps alternative truths).

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Der Umgang mit unseren Freiheiten ist ein Beispiel. Wenn ich auf die Coronaparty in Potsdam verweise, versteht jeder ohne weitere Erklärung, was ich damit meine. Es reicht nun nicht, die einzelnen Feiernden auf ihre Verantwortung hinzuweisen, wenn ich nicht zugleich auf ihre Haftung verweise, wenn sie einen Ansteckungsherd aktivieren. (Und wenn sie nicht tun, haften sie für ihr schlechtes Beispiel). Das ist die eine Seite.

Der Umgang mit den Folgen des ins Unabsehbare verlängerten Ausnahmezustands ist die andere Seite. Dieser erlaubt Einschränkungen von Freiheit ohne für die betroffenen absehbare Folgen (im Guten) und mit fatalen Konsequenzen (im Schlechten).

Stefan Weidner gibt heute eine wichtige Erläuterung: wenn zB. Tests bei Urlaubsheimkehrern am Flughafen freiwillig und kostenlos angeboten werden, wird damit die freiwillige, d.h. reflektierte, Entscheidung jedes einzelnen Menschen unter ein Diktat gestellt, von vornherein der persönlichen Entscheidung teilweise entzogen. 

Nebenbei: alle von der Politik im Bereich der wirtschaftlichen Ethik ausgehandelten freiwilligen Kollektivhandlungen sind gescheitert.

Verlangt das nun nach einem autoritären, staatlichen verordneten Testzwang? Ja, aber nicht am Tag der Heimkehr aus dem Urlaub, sondern ein paar Tage später (wahrscheinlich haben sich mehr im Flieger angesteckt als im Urlaubsort). Verlangt das nicht die genaue Registrierung und Nachverfolgbarkeit der Aufenthaltsorte aller potenziell Betroffenen? Ja, aber…wo sind wir denn? In China? Darf das der Staat?

Natürlich, schon wieder, liegt eine Erklärung darin, dass Freiheit sehr unterschiedlich, aber nicht zufällig ausgelegt wird. Was es mit der Einschränkung meiner Freiheit zu tun hat, wenn ich einen Mundschutz trage, erschließt sich mir nur in ganz wenigen, intimen Situationen, ansonsten nicht. Das gleiche gilt für den Kontaktabstand.

Zurück zur Polizei.  Wenn die nicht einschreitet, weil sie Angst hat, das Misstrauen der Bürger*innen zu vermehren anstatt das Vertrauen zu gewinnen, dann leistet sie eigentlich Beihilfe zur Verbreitung des Virus.

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Es wird eine zweite, vielleicht dritte Welle der Seuche geben, und man wird mehr Tote in  Kauf nehmen, und weniger Unterstützung der betroffenen notleidenden Individuen und Wirtschaftsbetriebe. Wenn uns das Virus erhalten bleibt, dann wird das erprobte Seuchenverhalten früherer Infektionen sich normalisieren, die Armen, die Alleinerziehenden, die Kinder, die Nichtweißen werden mehr darunter leiden als alle anderen, übrigens auch die Alten, die das Ganze dirigieren (à Jugendstudien! Generationenauseinandersetzungen).

Dass das sogar ein politisches Kalkül sein kann beweist der Verbrecher Trump oder will sein Pendant Bolsonaro beweisen, und es beweisen die Diktatoren allenthalben. Macht eine Racial Analysis der Toten in den USA, der Wohnungslosen seit Corona, der Verarmten…Nicht viel anderes zeichnet sich bei uns ab, bei uns in Deutschland, Österreich, der EU, nur nicht so schlimm. Für den Rest der Bevölkerung wird es Hinnahme-Strategien geben wie bei früheren langfristigen Infektionen (Syphilis, Tbc), sofern der Abstand zu den von der Seuche stärker betroffenen Schichten groß genug bleibt.

Das muss natürlich nicht so kommen, man kann dem politisch begegnen. Dazu aber sollte man besser verstehen, was die Seuche tatsächlich ist und was sie bedeutet.  

Erneut verweise ich auf Stefan Weidner: hört die ganze Geschichte nach, bitte: https://www.deutschlandfunk.de/essay-und-diskurs.1183.de.html (26.7.2020, 7 Tage direkt in der Audiothek).

Es findet jetzt bereits eine  Mythenbildung statt, wie das bei 9/11 der Fall war. Und in der Dekonstruktion des Mythos lernen wir unsere Verantwortung und unsere Haftung für die Folgen von unkontrollierter Globalisierung, Beschleunigung, für die Folgen der Kolonisierung, für die Missachtung dessen, was Freiheit sein kann, wenn nur das ausgenutzt wird, was Freiheit gerade ist.

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