Nichtrechtslinksmitte, aber was dann?

„Protest ist nicht dafür da, dass die Protestierenden zufrieden sind, sondern hat offenbar eine gesellschaftliche Funktion. Er ist der Vetospieler, den es eigentlich nicht geben kann, der aber in der Lage ist, die gesellschaftlichen Diskurse mitzuverändern“. (Armin Nassehi, taz 29.7.2020)

Nassehi ist auch sonst klug und hilfreich. Mich hat sein Interview angeregt, meine Widerstandsoption genauer zu durchdenken, weil ich ja immer und immer noch, immer wieder für den Widerstand gegen die illegitime, die übertriebene, die irreführende Gewalt anschreibe. Dass Widerstand nicht Protest ist, kommt nicht einfach daher. Widerstand hat schon die Stufe der Reflexion überwunden, ist schon Handlung geworden, und sei es auch nur sprachlich, und das, wogegen er sich wendet lässt mich immer an den Titel eines sehr guten Buches denken: Leidenschaften und Interesse (Albert O. Hirschman (Hirschman 1984)). Protest braucht Leidenschaft und ein Minimum an Aufrichtigkeit, noch beim Mitlaufen. Widerstand aber muss ein Interesse umsetzen, etwas zu beseitigen um etwas anderes zu erreichen. (Erst die Moderne hat den Widerstand „vergesellschaftet“, und es muss nicht immer Klassenkampf sein). Der Originaltitel von Hirschman sagt übrigens sehr viel genauer, worum es geht: Political Arguments for Capitalism before its Triumph (1977).

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Aufregung: Wirecard – wer hat wann nicht aufgepasst? Aufregung: Ach, die Sklavenarbeiter der Fleischindustrie und bei der Gurkenernte sind nicht anständig untergebracht? Aufregung: die klerikofaschistischen und rechtsradikalen Regierungen in der EU, meist im Osten, verabschieden sich von demokratischen Konventionen (dieser Tage will Polen aus der Istanbul-Konvention aussteigen….).

Zu recht wird hier kritisiert, dass und wie sich gewalttätige Herrschaft gegen bereits erreichten demokratischen Konsens durchsetzen möchte – Protest ist angesagt. Aber bevor wir weitergehen, Widerstand sei angesagt, vielleicht sogar mit Mitteln, die sich gegen das Rechtssystem selbst richten, z.B. in der Türkei, wo schon Protest in den Kerker führt,  müssen wir uns doch aufrichtig fragen:

Was haben wir denn erwartet? Dass nur die reformbereite, sozusagen bürgerlich-nette Seite des Kapitalismus uns erlaubt, ganz gut zu leben – und gegen alles, was uns nicht passt, entsprechend zu protestieren…und dass die andere Seite, die eben die Käfighaltung von Menschen und Tieren profitabel macht, sei eine Abweichung von der Norm, und die müsse man schleunigst reparieren (jetzt hat der Hubert Heil ja mit seinen Vorschlägen Recht, jetzt sehen wir, dass die ehemaligen Ostblockländer nur in die nette Seite der EU aufgenommen worden waren, und die Pflichten sich durch die >Kritik der kommunistischen Vergangenheit schon von selbst eingestellt haben…). Dieses JETZT ist fatal, weil es uns fragen lässt, warum immer etwas passieren  muss, bevor man sieht, was man immer schon gesehen hat. Menschliche Psyche?  Oder eben die Entsolidarisierung immer dann, wenn man selbst nicht betroffen ist.

Widerstand: wer wegen Tönnies zum Vegetarier wird, hat einen guten Grund. Nicht nur Tierschutz, Menschenschutz. Das ist nicht Protest, sondern Widerstand. (Das muss nicht dogmatisch und rigoros sein, aber das wissen die politisch Aktiven länger als die Programmatiker). Widerstand gelungen: keine Coronaprämien für Verbrennungsvehikel. Widerstand misslungen: Glyphosat. Widerstand misslungen: Maskentragen und Abstandhalten mit Freiheit zu verknüpfen…wenn sich der Protest lächerlich macht, muss man ihn bekämpfen (das fällt bei den Jugendlichen, Ballermännern, Coronapartysierenden schwer, weil ihnen schon alle Bewegungsräume scheinbar genommen worden waren – scheinbar, aber dahinter steckt das Systemversagen dennoch).

Auf all das lässt sich das linksrechtsmitte-Schema nicht mehr so einfach anwenden. Aber was dann? Den Begriff zu entwickeln, ist auch Politik. Daran arbeiten wir seit langer Zeit, und es gehört Widerständigkeit dazu, sich nicht mit einem einmal erreichten Niveau, sich auszudrücken, seine Wahrheiten hinauszuschreiben oder zu flüstern, zu begnügen. Darum brauchen wir die Vetospieler auch, die es nicht gibt.

Hirschman, A. O. (1984). Leidenschaften und Interessen. Frankfurt/M. , Suhrkamp.

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