VOR VIER TAGEN 30.8.2020 HABE ICH DIESEN TEXT BEGONNEN, HEUTE 2.9.2020 SETZE ICH IHN FORT
An Intelligenz und politischem Verständnis ist Kanzlerin Merkel ihrer Regierung und vielen anderen Politiker*innen weit voraus. Das kann man gerade dann sagen, wenn man von der CDU/CSU Dominanz und ihrer Umsetzung wenig hält. Und es hilft auch nicht, die Charts der Dummköpfe immer nach den letzten Ausfällen (Haseloffs Maskenverzicht im unnötigen Land Sachsen-Anhalt) neu anordnet: nach unten ist keine Grenze gesetzt.
Selbst hartnäckigen Konservativen wird klar, wie bedeutsam der institutionelle Widerstand gegen personalisierte Dummheit ist. Das wird an vielen Gerichten und Behördenentscheidungen in den USA deutlicher als bei uns, gilt aber hier auch. Umgekehrt ist die Macht der Körperkulisse durch die sozialen Medien und die digitale Entwertung von Nachrichten aus der Wirklichkeit gewachsen.
Wann immer die Grundrechte missbraucht werden, um sie einzuschränken und letztlich abzuschaffen, wird auf die grandiose Schwäche der Demokratie verwiesen, die eben dies zuließe, weil sie a) dem Volkswillen eine Grundlage gäbe und b) die, diese Freiheiten (schon, jetzt schon) leben, die Grenzen ihrer Lebenswelt aufzeigen.
Oder anders: wenn angeklagt wird, dass es die Eliten sind, die die Freiheiten vehement verteidigen, dann oft mit dem Argument, dass es nur „ihre“ Freiheiten seien, und das Volk ja ganz andere in Anspruch zu nehmen wünsche. Dass also das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt), in Anspruch genommen werden kann ohne Ansehen der Resilienz eben dieses Rechts.
Es geht hier nur scheinbar um die heutige oder morgige Demonstration (also am Wochenende 30./31.8.) von Impfgegnern-Nazis-Coronaleugnern in Berlin. Zu der äußere ich mich nicht, weil die Konfliktlinie zwischen Freiheitsrechten und Lebensschutz nicht auf der Ebene von dogmatischer Abwägung diskutiert werden sollte. Es geht um sehr viel mehr, und der kurzfristige Triumph der Verwaltungsgerichtentscheidungen ist nur ein Brandbeschleuniger einer ganz anderen Konfliktkonstellation.
Wie hier schon mehrfach angesprochen, ist in einer Republik, die demokratisch begründet wird, der Widerspruch von Freiheit und Demokratie fast strukturell angelegt („fast“ im Sinne von alternativlos). Freiheit wird gesetzt wo und indem man verhindern will, dass der Volkswille sie außer Kraft setzt.
(Vergessen wir nicht, nicht nur Hitler wurde gewählt, mehr als einmal, auch andere Diktatoren nutzen das Ergebnis von umgesetzten Freiheiten zu ihrer Abschaffung, Modi, Erdögan, Trump… Es sind Diktatoren, die ihre Länder in Diktaturen umwandeln. Deshalb müssen wir Russland oder China mit anderen Maßstäben messen, dort werden Freiheiten nicht mehr kontrafaktisch eingesetzt).
Die USA sind ein gutes, weil lang haftendes und andauerndes Beispiel, dass die Freiheit derer, „die im Licht sind“ (Brecht), oft und zu Recht ein Vorbild für den Rest der Welt war und ist, während die Demokratie die gleichen Freiheiten si missbraucht hat, dass Rassismus noch 160 Jahre nach der Sklaverei nicht nur Schwarze, auch andere Nicht-Weiße UND arme Weiße ständig und stark akklamiert missbraucht (ich sage bewusst Schwarze, weil sich die minoritäre Differenzierung nur zur Abschwächung des Grundtatbestandes der Diskriminierung missbrauchen lässt. In diesem Fall). Eine der heute heftigst diskutierten Konsequenzen ist der wissenschaftliche, philosophische, alltagsverständliche Zweifel an den Formen der Demokratie, die bei uns dominieren.
„Demokratie herrscht nicht“, hatte mein Freund Erich Fried formuliert. Ich glaube heute, dass er das damit meinte.
Bei allen diskutierten Krisen und Ausnahmezuständen besteht ein selten ausgesprochenes, aber latent nachweisbares Bedürfnis nach autoritären und effektiven Konfliktlösungen. (Gerade bei denen, die die Freiheiten nicht Einzelfall-bezogen hochhalten). Wer sich dem entgegenstellt, ist schon im Lager der Populisten, bevor er oder sie noch populistische Positionen beziehen, aber das kommt als Folge ihrer Zuordnung nicht selten als nächster Schritt).
Der Ausweg ist paradox. Zum einen muss – nicht soll oder kann – man die Feinde der Demokratie nur damit zur Konfrontation bringen, dass man sie an den „Runden Tisch“ setzt, wo die heilige formale Gleichheit ihnen Gelegenheit gibt, sich der Freiheit zu unterwerfen oder sich auszugrenzen. Das hat nicht nur 1989 erfolgreich geholfen, auch eine Zeitlang gehalten. Zum andern aber muss man die „im Dunkeln“ (Vorsicht: oft nennt man die Falschen dann Pöbel oder White Trash) ans Licht holen, d.h. den Regeln der Demokratie, die noch nicht Ende ist, unterwerfen. Oder, Fried weiterentwickelnd, sie zur Demokratie anherrschen… Es geht dabei nicht um die Nazis von der AfD und die Verschwörungstheoretiker und die Stammtischdiktatoren der abgehängten Provinz. Es geht um die Armen und kulturell Deklassierten, die auch bei Nazis, Verschwörung und Stammtisch Zuflucht suchen, weil sie ausgegrenzt werden.
(Das ist nicht abstrakt. Wer hat die Dörfer Brandenburgs ihrer Einkaufsläden, Kinos, Kirchen und Gaststätten beraubt, wer hat die Sklavenarbeit in der Landwirtschaft staatlich begünstigt, wer hat den Artikel 14 des Grundgesetzes zur Lachnummer degradiert…? Nicht zuletzt die, die sich auf ihre Regeln der Demokratie berufen. Minimundus legale). Es sind die unzureichenden Sozialsysteme, die die Abgehängten in die Arme der Extremisten oder Idioten treiben, und es ist nicht Religion oder Weltanschauung. Dumm wird man durch ein schlechtes Bildungssystem – das Deutschland auszeichnet, aber radikal wird man durch mangelnde Solidarität – hier findet eine Konfrontation statt, in der noch die Solidarischen die Mehrheit haben, deren Demokratie aber gefährdet ist.
Ich will nicht vom stillen Schreibtisch zum Widerstand aufrufen. Aber der beginnt mit der Demokratie, die wir haben – und da kann jede/r praktisch werden.
P.S. die Freude bei der AfD ist verständlich. Die Nazis haben das Ganze schon gekapert, bevor die Verschwörungsgläubigen das Wort „Grundrechte“ auch nur buchstabieren konnten.
2. September 2020 – die Kriegsgedenktage sind vorbei, der Reichstag ist wieder ohne schwarzweissrote und amerikanische Flaggen gut sichtbar:
»Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist.« Das sagt Erich Fried, kein Gedicht, ein hinkender Aphorismus, so wie alles, was in diesem Kontext heute hinkt.
Michael Ballweg, Sprecher von Q711, bislang Zentrum Stuttgart, Organisator und Hauptinterpret der Corona-Demos, gibt heute ein großes Interview im DLF (7.10-7.30). Ausführlich beschwichtigt er jeden Verdacht einer inneren und funktionalen Verbindung zu den Nazis, Reichskriegsflaggen, Verschwörungsagenten usw., – nein, dem sanften Rhetoriker geht es nur um eine Reform des an Corona versagenden Gesundheitswesens. Ballweg ist kein Nazi. Eigentlich ist kein Nazi. Vor 1933 ist es schwierig, eigentliche Nazis zu identifizieren außerhalb der Parteigliederungen und Schlägertrupps. Dadurch wird aus Ballweg auch kein Nazi. Eher einer, der sich durch Dabeisein, nicht durch Dazugehören, schuldig macht, wie Steinmeier, der Bundespräsident, argumentiert. Eigentlich lässt er nur zu, dass mögliche (oder richtige oder kritische) Argumente gegen die CoVid Politik der Regierung, der Medien, der 85% zustimmenden Bevölkerungen nicht mehr ohne den Basso continuo der Nazis und Identitären so einfach gebraucht werden können.
Nimmt man Duktus und Form dieses Interviews ernst, ist das Sprachspiel „Ball weg!“ angebracht. Ballweg schießt ein Eigentor, weil er mit dieser Form der Distanzierung von rechts nichts bewirkt als ein Aufmarschgebiet der Rechten von „Gemäßigten“ zu säubern, und sozusagen ein Glacis zu schaffen, von dem aus man dann Seit and Seit angeblich für die Grundrechte und gegen die staatlichen Diktate eintreten kann. Hier tritt der „Jargon der Eigentlichkeit“ in seine Domäne (T.W. Adorno, Ffm. 1964).
Wenn der Ballweg „Grundrechte“ sagt, oder tags zuvor in den Nachrichten die Frau von Storch, dann wird der Begriff ausgehebelt, er tritt in seiner Auslegung nicht mehr gegen seine Bedeutung (weil kein Mensch jemals den Zusammenhang zwischen Mundschutz und Freiheit in Zeiten des Virus hat auch nur abstrakt, geschweige denn praktisch herstellen können).
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Schon hat Trump halb gesiegt: das Virus tötet – natürlich, das IST die Natur nicht nur der USA – mehr Arme, Schwarze, Abgehängte und Demokraten als den weiße Gewaltpöbel des Präsidenten. Nicht viel anders in Brasilien. Und es wird, bei Fortbestehen der Gefahr und Zweitinfektionen bei geöffneten Schulen und Werkhallen, analog so bei uns sein. Die medizinischen und die sozialhistorischen Seuchenanalysen lassen diesen Schluß ohne weiteres zu.
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Um uns dem Jargon der Eigentlichkeit zu entziehen, müssen wir auch selbstkritisch und kritisch mit unserem Vokabular und dem Pathos gegen rechts umgehen. Das heißt zum einen, deutlich zu werden, wenn es um Sterben und Langzeitfolgen der Infektion geht, nicht um den Tod, den wir besser im Griff haben als unsere Nachbarn und Konkurrenten. Der Tod ist heroisch, pathetisch, statistisch. Das Sterben im Koma, mit dem Schlauch im Bauch, ist scheusslich, für alle. Das heißt zum andern, nicht herumzureden: Nazis sind Nazis, nicht ein paar verirrte Rechtsnationale oder verirrte Spinner.
Seit‘ and Seit‘ mit den Nazis spielt den Ball weg ins Spielfeld des Feindes. Die Feinderklärung ist objektiv, nicht nur von den paar Hundert auf den Reichstagsstufen. Es gibt aber kein Grundrecht auf Feindschaft.
Damit will ich sagen, dass das dauernde Beschwören des Rechts auf Meinungsäußerung mit dem Hinweis, ABER NICHT SO, die falsche Figur ist. Es bietet den Gegnern der Demokratie und den Verrückten gleichermaßen die unschlagbare Waffe des Grundrechtsbesitzes, während wir sie in jedem Fall immer neu herstellen müssen, die Grund- und Menschenrechte.