Seid Ihr noch NORMAL? Endlich wieder NORMAL?
Es gab eine Zeit, da wurden abnorme Menschen schnell und unkompliziert entweder in die Psychiatrie gesteckt oder ins Gefängnis. Über die geistig abnormen Rechtsbrecher gibt es umfangreiche Literatur: der Humanismus unterlag meistens der politisch opportunen Ideologie: abnorm => Ausrotten, wenn dennoch straffähig; verrückt => Ausrotten durch Wegsperren. Das ist noch nicht so lange her. Davon spreche ich hier nicht, wenn es aber Bezüge dazu gibt, umso besser.
Tägliche Litanei: wenn es WIEDER normal sein wird…
- Normal durch Biden
- Normal nach Corona
- Normal bei Wirtschaftsaufschwung
- Normal im Moderevier
Jetzt ist es nicht normal. Wer bestimmt das? und wenn wir das wissen, wer hat Recht?
Normalität ist verordnet oder stellt sich politisch und gesellschaftlich ein. Es kommt immer darauf an, von welchem Standpunkt man Normalität und Abweichung betrachtet, oder aber, was sich für die Mehrheit oder in einer Gruppe oder bei einer Auswahl von Identitäten durchsetzt[1].
MICH interessiert das „Wieder“, also die Vorstellung von einer Rückkehr zur Normalität. War es vor Trump, unter Obama, normal und was war normal? War es vor Corona normal? Die Fragen sind so schwer nicht zu beantworten, wenn man sie konkret aus der Sicht der weißen europäischen Mittelschicht stellt, mit einem einigermaßen gebildeten Blick auf die Weltpolitik, auf die Umwelt, auf das Krankheitsgeschehen in der eigenen Gesellschaft – kontrastiert mit den Blicken aus anderen Schichten und Klassen bei uns, und vor allem anderswo. Jawoll, Herr Lehrer.
Normalität ist ein Catchword, eine Worthülse geworden, hinter der sich Hoffnung, Erwartung, Angst versteckt.
Wenn man die Fernsehserie Normal People, die aus dem Buch von Sally Rooney kommt: Normale Menschen, 2018, bespricht, ist das normal und in kultureller Hinsicht in Ordnung. Wenn der Hauptdarsteller als Model für dezente Männerkleidung auftritt, irritiert mich nicht die Story, sondern der Bezug zu „Normal People“ (ZEIT Magazin #38, 10.9.2020). Der Begriff hakt sich fest. In Ordnung heißt, es trifft meine Erwartung, und die geht mit dem Mainstream: nichts anderes hat man erwartet.
Unerwartet die Wucht, mit der ein scheinbarer Antikolonialismus und eine retrospektive Scham quer zur älteren Klassenkritik sich (unter anderem) an Black Lives Matter hängt. Denkmalstürze, die Beseitigung der rassistischen Assoziation aus Kunstwerken, die Kunst der Umbenennung vereinigen sich zu einer Cancel-Culture. Man beseitigt den Anlass des Unbehagens, dann muss man sein Weiterbestehen weder diskutieren noch gar verteidigen. Mit der Auslöschung der Anlässe beseitigt man die Erinnerung und den Kontext.
Evelyn Finger in der ZEIT vom 15.10.2020 beschreibt dies drastisch an der Diskussion des rassistischen Melchior im Ulmer Münster („Der Mohr muss weg!“) und der „Judensau“ an der Lutherkirche in Wittenberg. Es sollte normal werden, was sie an diesen Beispielen fordert: „Den Fehler nicht verstecken, sondern ansehen, verstehen und fürchten“.
Heute ist der 9.11. Maximales Datum der Erinnerung an fast zu viele Beispiele des Abnormen? Oder ist die Wiederkehr des Schrecklichen eine normale Wiederkehr des immer Gleichen in unterschiedlichen Gewandungen? Wohl nicht.
Der Mord von Wien, vor nur einer Woche, offenbart einige Normalitäten: die unbekümmerte Ignoranz von Sicherheitskräften bei Warnungen (man könnte politisch inkorrekt missverstanden werden?), die sofortige Assoziation mit den bedrohlichen Migranten, Flüchtlingen, Muslimen und die ganz normale, vorbeugende Distanzierung davon (man kann der politisch korrekten Darstellung keinen Vorwurf machen), die Forderung nach Gesetzesverschärfungen einer Ausweitung exekutiver Prävention (es war schon seit langem normal geworden, dass dies alles so gut wie keine Ergebnisse gebracht hat, aber es beruhigt – und so normal wie früher wird Wien jetzt wohl nicht mehr sein…). Sag statt Wien Berlin, Paris, Berlin, Dresden. Zur gestrigen Q-Demonstration: Nazis+Coronomaßnahmenleugner+verantwortungslose Verschwörungsgläubige haben zwei andere Normalitäten geoffenbart: Immer häufiger berufen sich Gerichte, hier VerwG Bautzen, auf die Grundrechte, um Gefährdungen als hinzunehmende Folge von Freiheiten zu ermöglichen. Es ist normal, dass sich mehr Menschen dadurch anstecken und sterben werden. Das bedeutet aber auch eine Abstraktion der Menschenrechte zugunsten einer Realisation von Willkür. Und es ist normal, dass sich die Politik versucht, wegzuducken.
Heute ist der 9. November[2]. Gedenken allein genügt nicht. Den Kontext aufrufen muss nicht beschämen, aber es fordert heraus. Und wenn es beschämt, wird es normal sein, zu handeln.
[1] Es gibt eine wichtige Theorie des Normalismus: Link, J. (2009). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität erzeugt wird. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht. Allerdings behandelt diese hervorragende Abhandlung nur einen Teil unserer Probleme.
[2] Daxner, M. (1996). Schicksalstage in der Geschichte werden gemacht – Der 9. November. Geschichtsbuch Oberstufe. H. Günther-Arndt. Berlin, Cornelsen: 354-357. Ich hatte viel zu wenige solcher Tage ausgemacht…