Vorab. Das Folgende liest sich schwieriger als es ist, und es ist ungleich schwerer als man denken kann. Der Sachverhalt ist einfach und in logische Dreisätze aufzugliedern.
- In den letzten Wochen vergleichen immer mehr Coronaleugner, Identitäre, Querdenker, AfD-ler, Verschwörer die Maßnahmen des deutschen Staates zur Eindämmung der Pandemie mit der Nazizeit (Ermächtigungsgesetz, Diktatur, etc.).
- In den letzten Tagen vergleicht sich u.a. eine dieser Demonstrantinnen mit Sophie Scholl. Diese wurde mit 21Jahren geköpft, weil sie gegen das Regime agitiert hatte und nichts bereute. Jana aus Kassel ist 22 und wird kritisiert, aber nicht von Staats wegen. Und schon gar nicht belangt oder gar getötet.
- Seit langem nenne ich die deutsche Rechte (NPD, AfD, Identitäre) und ihre Verbündeten Nazis. Nicht Neo-N., nicht neue Nazis. Nein, mein Vergleich geht ausnahmslos auf die Zeit vor 1933, und behauptet keine Identität, aber mehr Verwandtschaft als Unterschiede.
Wenn Nazis ihre Kritiker als Nazis denunzieren, erinnert das an die Kritik der kritischen Kritik (K. Marx) und anders als dieser bin ich zunächst hilflos, auch wegen der meisten öffentlichen Reaktionen. Empörung, Unverständnis, und die Dialektik von Verharmlosung – wessen? Der Nazis von 1933 oder der heutigen? – und Marginalisierung der heutigen Übeltäter, von Gauland und Weydel bis Jana aus Kassel. Ich will nun nicht so hilflos bleiben, wie ich nicht bin, sonst schriebe ich nichts mehr.
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Empörung und Widerwillen haben eine kurze Halbwertzeit und bewirken wenig; sie schenken auch keine psychische und intellektuelle Beruhigung („Denen hab ich‘s aber gesagt…“).
Wir haben uns bisweilen die Begriffe stehlen lassen und dann passiv unser Vokabular anzupassen. Als sich die Neonazipartei „Die Republikaner“(* 1983) etablierte, war das so. Der Ehrentitel „Republikanismus“ war eine Zeitlang schwer als selbstverständlich zu gebrauchen, da die REPs immerhin 7% im EP hatten (1985). Die Assoziation zu den US-Republikanern ist noch schwieriger, die waren einmal fortschrittlicher als die Demokraten, und beide haben mit ihren Visitkarten nur bedingt zu tun…und wir müssen erklären, differenzieren, abwägen, wann und ob wir solche Worte überhaupt ohne Adjektive oder Definitionen in den Mund nehmen (leider geschieht selbst das zu selten, kein Platz auf Twitter…). Dies ist ein Beispiel für die Umkehrung: die siegreich-fortschrittliche Vokabel Republik wird angeeignet von denen, die sie zerstören wollen. Die Umkehrung der Umkehrung ist die Inanspruchnahme der Grundrechte und der Verfassung, um den demokratischen und republikanischen Bürgerinnen und Bürgern, STAATSbürgerinnen und STAATSbürgern, das Unsagbare anzuheften.
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Soll ich jetzt aufhören, die AfD eine Nazipartei und die Querdenker ihre Sturmtruppe zu nennen? Fällt mir nicht ein. Damit verlasse ich aber das Feld der Meinung und betrete den Boden der Politik (den Schritt habe ich von Alain Badiou). Wenn sich die AfD und ihre Bundesgenossen auf die Verfassung, auf die Grundrechte berufen, dann frage ich nach der Legitimität dieser Selbstzuordnung – und nach den Richtern und Politikern, die dieser Gruppe den vollen Schutz eben dieser Verfassung vorrangig zuschreiben (Versammlungsfreiheit in Leipzig als starkes Beispiel).
Politisch ist, was ich sage, weil es attackiert, kritisiert oder auch aufgegriffen werden kann und dann in den Kontext von Unterstützung oder Gegnerschaft zu konkreten sozialen Gruppen gestellt werden kann mit unabsehbaren Reaktionen. Oder eben nicht…Und anders Meinungen muss es sich ausweisen, die bloße Behauptung zählt nicht.
Dieser Kontext lässt sich am Einzelfall demonstrieren, ist aber – das sagt sein Begriff – weiter. Wir sind gerade in einer Auseinandersetzung um den Islam, Islamismus und politischen Islam; in einer Auseinandersetzung um terroristische Gefährder mit und ohne religiösen Hintergrund; um scheinbare gegensätzliche Brennpunkte Gesundheit und Sicherheit (Maskenpflicht, Impfpflicht), Gesundheit und soziale Rechte (Ansteckungsfreiheit zu Weihnachten), Ökonomie und Ökologie etc. …
Gegensätze machen weder Dialektik, noch ist der Mittelweg ein gangbarer Kompromiss (Alexander Kluge meint eher, er sei der Tod). Die Widersprüche stecken in jedem dieser Begriffe und ihren Wirklichkeiten, und da müssen wir eben ran, ob wir wollen oder nicht (wer will das schon…?) – d.h. die Versammlungen der Nazis unterbinden. Dazu braucht man u.U. Umwege, z.B. gegen eine Polizei, die vielleicht aus gutem Grund (ihre rechtsradikalen Segmente) gegen die Nazis sanft und unfähig umgeht; z.B. gegen die opportunistische Verabsolutierung einzelner Grundrechte gegen alle anderen (Freiheit versus Sicherheit ist auch so ein falscher Antagonismus).
Warum ich immer auf die Zeit vor 1933 abhebe und die Analogie zu unseren heutigen Nazis, nicht nur in Deutschland und Österreich, ziehe: diese Menschen berufen sich ohne jede Scham auf die demokratische Verfassung und die ihnen von ihr garantierten Freiräume. Und wer dagegen aufbegehrt, soll das nicht dürfen, nur damit keine falsche Symmetrie entsteht? Die sind ja auch nicht anders…Das hat schon in den USA für viel Spaltung gesorgt und ist bei uns auch nicht mehr selten. Nazis suchen die Öffentlichkeit, das erlaubt die Angliederung von immer mehr dissidenten Gruppen, die nicht notwendig die selben Überzeugungen haben, aber den gleichen Feind: die Demokratie im republikanischen Staat.
Einschub: seit 1925 hat Elias Canetti an seinem Buch „Masse und Macht“ geschrieben (1960). Für seine Beobachtungen steht eine heute besonders auffällige „Ein wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens“ (S.50). Das ist an sich nichts neues, aber wenn nicht eingeschritten wird, dann verwandelt sich die Hetzmasse in eine legitime Fraktion der Gesellschaft. (Und diese Legitimation findet durch die ambige Beschweigung statt, die allenthalben der Anstrengung des Sagens, was ist, entgegensteht). Vieles an Canettis Vorstellungen vom Aufstieg Hitlers liest sich heute eher merkwürdig (weder falsch noch richtig, denn: er sucht meistehrhaft die sensiblen Punkte heraus, die Massen entstehen und zur falschen Macht werden lassen, aber er kann sie (sich) nicht hinreichend erklären: und die Gefahr sehe ich bei vielen Interpreten der neueren Nazigefolgschaft auch.
Nachsatz: dass Demokratie nie vollkommen oder ideal sein kann, wissen wir, und dass sie ihren Gegnern mehr Spielraum erlaubt als jede andere Regierungsform, wissen wir auch: das ist auch ihr Vorzug und ihre Zähigkeit. Aber nirgendwo steht, dass sie die Grenzen des Spielraums nicht auch selbst bestimmen kann, das ist unsere Freiheit. (weil es unser Recht ist, Rechte zu haben, und die sollte man ja auch einsetzen und umsetzen…)