Ambig am 24.12.

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Draußen köchelt der Streit, ob man heute in den Kirchen Gott zur Ansteckung brauchen könne oder dies im kleinen Familienkreis, gar allein, selbst bewerkstelligt. Vokabel, die sonst im Vollbesitz der Kitschbrüder oder der Spätromantiker schwirren oder als höhnisches Attribut den Abgehängten angehängt werden, machen todernst die Runde: Alleinsein, Einsamkeit, Verlorenheit…

Ich halte das nur aus, indem ich spotte, aber nicht mildes Comedianlächeln, sondern eine verzerrte Grimasse entstellt meine edlen Gesichtszüge, wenn ich das Geflöte höre.

Ob Deutsche in die sonst eher verstaubten Gotteshäuser gehen, um als disloziert kauernde Gottesanbeterinnen nicht zu singen, sondern zu summen, ist so egal wie die Frage, was hilft, wenn einmal im Jahr beten nicht hilft.

*

Habt ihr jemals Liebesgeschichten aus Auschwitz gelesen, wenigstens davon gehört?

Habt ihr jemals die Weihnachtsfeiern in den Schützengräben von Verdun in der Literatur verfolgt?

Sicher, das kennt man ja.

Ich rege mich nicht auf, sondern verstricke mich in das, was mein gelehrter Freund Florian K. als Ambiguität in der Wissenschaft bearbeitet und mich damit stark angeregt hatte. Nicht Ambivalenz, man kann es so oder verstehen, nein: Ambiguität. Zwei unvereinbare Tatbestände bestehen doch gleichzeitig. Glück im Angesicht des Sterbens, Solidarität in Gegenwart tödlicher Feindschaft. Mit dem Feiern inmitten von Schrecken, mit dem kurzfristigen Abschalten der Wahrnehmung von Prioritäten, mit dem Lachen inmitten von Trauer löscht man den Schrecken nicht aus, setzt man keine unwürdigen neuen Prioritäten und behält man die Trauer bei, aber eben nicht als Verhaltenskonstante. Solange man niemanden mit diesen scheinbaren Paradoxien kränkt oder verletzt, spricht nichts gegen eine solche ambige Herangehensweise, die mir in diesen Tagen besonders deutlich wird: solange man sich informiert an die Coronaregeln hält, muss man nicht dauernd darüber reden oder gar von ihnen träumen…

ABER. Ich habe ja den Hinweis von Sascha van der Bellen auf die Flüchtlinge und die griechischen Lager nicht zufällig vornweg geschrieben. Dort hungern, frieren und fiebern tausende Menschen, die EIGENTLICH ZU UNS, nach Deutschland, Österreich, Europa kommen wollten, um zu ÜBERLEBEN. Und unsere christlichen, sozialen,  sozialdemokratischen, liberalen Politiker sülzen vom Geist der Weihnacht, beschwören den so genannten lieben Gott und die leuchtenden Augen der lieben Kinder, und keiner von denen würde mehr als eine Nacht von Ratten angebissen in den durchweichten Zelten überleben. 

ABER: Die Politik, die wir deshalb machen MÜSSEN, die Gelder, die wir dafür auftreiben MÜSSEN, die Missetäter, die wir dafür verfolgen MÜSSEN, – all das kann nicht warten, aber das heißt nicht, dass wir jetzt, zwischen 15 und 24 Uhr etwas machen KÖNNEN, das einigermaßen wirksam ist.

*

Das ist keine Abschwächung, sondern eine Art Konzentration auf unsere Bedürfnisse, die nicht nur mit anderen zu tun haben, sondern auch mit uns. Frohes Fest also, guten Rutsch, und morgen geht es weiter. Solange es weiter geht. Nur vertraut nicht darauf, dass es den Flüchtlingen besser geht, wenn ihr euch beim Weihnachtsgottesdienst ansteckt oder beim Festtagsbraten in rhetorischen Übungen zur Weltrettung ergeht.

ABER. Auch das erfordert einige Übung. Reiss dich zusammen…

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