Nu, soll er sich kränken

Man möchte sich ja freuen können. Blaue und gelbe Blumen, der Hund wälzt sich freudig im fast weggetauten Schnee, das Eis auf den Teichen schaut grausig aus und es ist natürlich unnatürlich warm. Der Klimawandel hat die viertägige Eiszeit wieder im Griff. Man freut sich, weil man ein Thema hat, Frühling, und nicht die verquirlte Kommunikation über die Spahnplatten vor dem Kopf rund um die Uhr verfolgen muss. Man darf auch an anderes denken.

Politik? Lieber nicht. Wozu man keine Meinung haben kann, dazu soll man si nicht äußern. Myanmar, Armenien, Äthiopien, …

Kunst? Öffnen wir den Musen die Tempeltore? Vor oder nach den Fußballstadien und Friseuren…

Beziehungen? Was sich alles mit Maske machen ließen, wenn man es überhaupt noch macht…

Der Frühling lockert die Schrauben. Das Klima macht besoffen, die Gesellschaft aber macht betroffen. Nicht nur als Reim vorbildlich, auch wahr. Denn so fröhlich man gerne leicht gelockert davonhüpfen möchte, die Handschellen der korrekten Betroffenheit sind streng und schmerzhaft.

Zur Zeit eskaliert ein Konflikt, ob Betroffenheit die Anerkennung und politische Besserstellung bestimmter Gruppen und Einzelpersonen rechtfertigt – oder ob die se subjektive Empfindung zwar ein coming out bedeuten kann, aber kein Recht auf die VertreterInnen der Ablehnung dieser Empfindung konstituiert. Der Fehlschluss ist leicht zu durchschauen. Es macht einen Unterschied ob jemand betroffen ist oder sich betroffen fühlt. Und im gegenwärtigen Konflikt geht es um die Identität, die aus der subjektiven Betroffenheit abgeleitet wird und denen, die darüber urteilen oder damit nicht übereinstimmen, das Verdikt fällen, dass es sie nichts angeht und dass ihre Argumente nicht zählen. Das Modell isdt, dass weiße alte Männer nicht über schwarze junge Frauen sprechen dürfen, bzw. dass es Bereiche gibt, in denen es nicht darauf ankommt, wie sie sprechen. Die Gegenposition ist, dass es vor allem auf dieses Wie ankommt, auf den Kontext. Identitätspolitik aber ist Kontextverweigerung. Weil sie Betroffenen strukturell zu Opfern macht.

In der Soziologie sprechen wir von privileging the marginalized. Das kann eine Notwendigkeit sein, wenn die Betroffenen betroffen sind, das entscheiden nicht sie, sondern ist ein objektives gesellschaftliches Phänomen). Das kann einen unlösbaren Konflikt bedeuten, wenn die Betroffenen ihre Betroffenheit aufgrund eines Identitätsmerkmals behaupten und andere Qualitäten ausblenden.

Natürlich hat man oft einen weißen Othello, einen schwarzen Jago, eine männliche Julia und eine Frau als Romeo auf die Bühne gebracht; natürlich hat die Kunst immer versucht, aus der Auflösung festgefahrener Identitäten Kritik entstehen zu lassen, mit wechselndem Erfolg. Wenn aber bestimmte Identitäten dogmatisch vorab festlegen, wer was wie sagen darf, bzw. nicht sagen darf, weil die unterstellte Meinung bereits diskriminierend sei, indem sie die historisch-soziale Betroffenheit individualisiere und damit die Betroffenen dort einsperre, von wo sie sich befreien wollen, indem sie endlich sie selbst sind, – dann hilft nur a) schweigen b) heucheln c) die Kritik am identitären Konstrukt zu Politik zu machen und damit d) Widerstand zu leisten. Unrecht. Natürlich darf man bei uns nicht alles sagen, auch wenn es unvergleichlich mehr  ist als in Diktaturen. Aber es geht gar nicht, etwas nicht sagen oder wo nicht hinschauen zu dürfen, weil es schon vor jeder Begründung inkorrekt ist. Auf die Gefahr hin, kritisiert zu werden.

Es ist Euch und Ihnen nicht entgangen, dass ich hier auch über die teilweise völlig entgleiste Thierse-Kontroverse schreibe. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html Gut an der Sache ist, dass wenigstens öffentlich über die Frage der Legitimität von Identität diskutiert wird, schlecht sind die Waffen, die hier eingesetzt werden, und am Thema arbeite ich schon viel länger. Was Thierse genau meint – und wer ihn wie kritisiert sehr brauchbar: https://www.deutschlandfunk.de/wolfgang-thierse-spd-ueber-identitaetspolitik-ziemlich.694.de.html?dram:article_id=493111

Es hat sich ja vieles zum Besseren  entwickelt, weil die Sensibilitäten mit der Kritik an sexistischen, kolonialen etc. Selbstverständlichkeiten gewachsen sind. Aber daraus die Privilegierung der betroffenen Individuen abzuleiten,  die korrektes Verhalten und v.a. Sprechen für eine ganze Gruppe ableiten, geht schon deshalb nicht, weil ja in den allermeisten Fällen die Gruppe gar nicht von den Betroffenen her zu definieren ist. Antisemitismus aus nicht-weißem Mund bleibt Antisemitismus, und wenn die Ursachen untersucht werden können und sollen,  ist das etwas anderes als mit Blick auf den nicht-weißen Mund den Antisemitismus nicht oder schwächer oder anders zu empfinden.

Naja, ich hab gut reden, als alter weißer jüdischer Mann. Anstatt die politische Korrektheit in rechte und linke zu unterteilen, ein jüdischer Witz (dürfen nicht jüdische Menschen Judenwitze erzählen?). Kommt eine Frau zum Rabbi und fragt um Rat. „Wir sind arm und ich hab nur einen Hahn und eine Henne. Eines von beiden muss ich schlachten, sonst haben  wir nichts zu essen, welche(n) soll ich schlachten“? „Was ist das Problem?“, fragt der Rabbi. „Schlacht ich die Henne, kränkt sich der Hahn. Schlacht ich den Hahn, kränkt sich  die Henne“. Nach einer Weile des Nachdenkens und Lesens fragt der Rabbi nochmals, und sagt dann: „schlachte die Henne“. Sie darauf: “aber dann kränkt sich der Hahn“. „Nu, soll er sich kränken“.

Ach, wenn es so einfach wäre.

2 Gedanken zu “Nu, soll er sich kränken

  1. Herr Thierse macht sich, so weit ich das dem Deutschlandfunk-Interview entnehme, Sorge um den inneren Frieden in Deutschland. Er befürchtet gewalttätige Auseinandersetzungen. Ich verspüre diese Anspannung im Moment nicht, aber das heißt nicht, dass Herr Thierse deswegen falsch liegt. Die Wahl von Donald Trump vor gut vier Jahren zum US-Präsidenten habe ich damals als Gegenreaktion wahrgenommen, gegen zu viel Identitätsbetonung. Gerade im vergangenen Jahr hatte dieser Konflikt auch Tote in den USA nach sich gezogen. Wandel ist gut und nötig, aber es kommt auch auf die Geschwindigkeit an, mit der er geschieht. Wer sich heute benachteiligt sieht, kann schon morgen als Unterdrücker am Pranger stehen. Herr Thierse erlebt das gerade, nachdem er viele Jahre das Sprachrohr der benachteiligten Ostdeutschen war. Jetzt ist er mit einem Mal Establishment. Andere Ostdeutsche haben sich weiter entwickelt und kritisieren ihn nun ebenso. Man könnte sagen, jetzt sind die Ostdeutschen, sind wir Ostdeutschen, in der deutschen Mehrheitsbevölkerung aufgegangen und integriert.

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    • da ist etwas dran. ist Ihnen übrigens aufgefallen, dass der Begriff „ostdeutsch“ viel zählebiger ist als der Begriff „westdeutsch“? mich hat das Vrschwinden von Westdeutschland lange eebenso beschäftigt wie die Auflösung des Ostens.

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