Nun ward der Winter unsers Missvergnügens
Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks;
Die Wolken all, die unser Haus bedräut,
Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.
(Shakespeare: Richard III 1/1, 1-4)
Da lässt man eines Morgens Laschet und Söder hinter sich, York klingt schon wie Sanssouci, und die Pirschheide grenzt, wenn nicht ans Weltmeer, so doch an die Havelseen, gleich mehrere. Da radelt man, zunehmend unbeschwert, wundert sich, wie viele Gartenbesitzer schon ihre Mährasierer zum Feinschnitt ansetzen, und freut sich darüber, in welch gutem Zustand Radwege und Brücken sind. Der erste vollkommene Sommertag – richtig: Frühling ist eine ausgestorbene Jahreszeit – Gelb und Weiß setzen sich vor grün, und bis auf die Insekten fehlt nichts am Auftakt zur Idylle. Naja, nicht übertreiben, so mancher Neubau stört an seiner Stelle, und statt der kaputten Bahnstation Pirschheide, bei den wirklich schönen Hotels und Campingplätzen, wünscht man sich schon eine intakte Haltestelle. Aber jetzt höre ich auf zu meckern. Es gibt manchmal ein richtigeres Leben im falschen, sei es für zwei Stunden.
Man muss seinen Blickwinkel verengen, um diese zwei Stunden in der heilen Welt abzuradeln, privilegiert in einer ohnedies begünstigten Lebenssituation. Wir schauen ja nicht aus dem Fenster in den Hinterhof der armen Leute, in die Verkehrswege der Zwielichtigen und der unerreichbar Begüterten, wir können es uns leisten, der Totalität der schlechten Umstände dadurch Widerstand entgegenzusetzen, dass wir einfach einmal abschalten. Das können sich die Wenigsten leisten. Zugleich könnte es einem die Freude am Beobachten eintrüben, würde man die Gründe für diese begünstigte Situation während des Ausflugs heraufholen und kritisch analysieren. Das Burnout der Umstände hat einen kleinen Naturpark der Freiheit offengelassen, wohin man schlüpft, indem man sich für zwei stunden losmacht, und schon ist man wie Alice im Wunderland.
Hör auf zu träumen, daraus würde Erich Fried gleich wieder ein Gedicht gemacht haben. Mich treibt diese Spaltung des Bewusstseins je nach Umgebung seit langem um. Nicht trivial. Umgebung ist immer gesellschaftlich, auch wenn sie wie Natur aussieht. Darum ist die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ein Blödsinn, auch wenn sie bestimmte Bereiche der so genannten Reformpolitik erobert. Aber genau daran zu denken ist fast alternativlos, wenn man durch die Landschaft radelt, sofern man nur genau hinschaut. Nun könnte man sagen, ist ja nicht schlimm, wenn man sieht, wie Menschen schön wohnen, sichs grün oder technisch einrichten, soziale oder isolierte Lebensformen wählen, und dazwischen sind Wald und Heide und Ufer…wenn schon nicht Natur, so doch eine naturnahe Kulturlandschaft. Und genau da beschleicht mich das fatale Gefühl, mit dieser Ableitung würde nichts als ein Glättung gleich auf zwei Ebenen versucht politisch durchzusetzen: die Beziehung der Gesellschaft zur Natur als partnering zu beherrschbaren Bedingungen zu unseren Lebensumständen zu machen; und das Private anscheinend intakt werden zu lassen, wie bei meinem Ausflug: da bin scheinbar nur ich mit meinem Körper und meinem Gedanken, abgekoppelt von dem, worüber nachzudenken sonst mein Leben bestimmt.
Nun muss ich mich nicht über die Auflösung dieser Scheinwelt zergrübeln und kann meinen Ausflug trotzdem genießen, nur eben nicht voraussetzungslos. Ich fahre durch die Natur? Unabweisbar der Gedanke an Rudolf Burger, einem Freund seit 1970, der vor zwei Tagen gestorben ist. Der Physiker war über lange Zeit einer der sperrigsten Philosophen, hat sich mit vielen, auch mit mir, in komplizierte Kontroversen eingelassen, und bleibt dennoch weiterhin aktuell mit der Entschleierung der konsensuellen Kultur. Ich fahre durch die Natur? „Die geschützte Natur ist keine Natur. Sie ist ein Artefakt“, wird Burger in vielen Nachrufen zitiert. Natur als Konstruktion, das wäre die künstliche Trennung, mit der die Ökonomie und die Politik bislang systematisch gegen die Zerstörung des Planeten wirken. Und ich konnte, bei allem Streit, mit Rudolf übereinstimmen, wenn er die Ritualisierung von Erinnerungskultur, auch an die Shoah, als untauglich für eine Verhinderung weiterer Großverbrechen erachtete. Zurück zur Natur. Wenn ich rund um Potsdam radle, dann denke ich einfach eine Natur, deren Zugang durch meine Vorstellung entsteht, die dieser geschützten Natur der Gärten und Forstbetriebe und Ausblicke aufs Wasser und…keine Endgültigkeit verleiht. So unromantisch wie Rudolf Burger sollten viele Politiker, auch der Grünen denken. Es waren zwei gute Stunden.
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Dass viele Nachrufe, auch dieser, das Naturzitat vorbringen, ist so wenig Zufall wie Burgers scharfe Kritik an der allzu glatten Einvernahme der Erinnerungskultur. Hier waren wir beide uns einig. In den letzten Jahren haben wir uns öfter in einem Wiener Caféhaus getroffen, sozusagen im naturfernsten Rückzugsort der wirklichen Naturfreunde.
Ich denke nicht daran, nachträgliche Übereinstimmung mit allen von Rudolfs Überlegungen und Konsequenzen nur deshalb vorzubringen, weil er nicht mehr lebt. Aber sein Tod weckt neben der Erinnerung auch das überzeitliche Gedächtnis an das gute Denken und die Freundschaft.
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Hier wird auch Hannelore Burger (*1946) zitiert, die 2017 gestorbene Frau von Rudolf, Freundin und als Wissenschaftleri, die wohl die wichtigste Kritikerin der Nationalitätenpolitik des alten Österreichs war. Das gehört zusammen, Freundschaft und Denken. Unter den vielen TExten einige:
Burger, H. (2014). Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Wien, Böhlau.
Burger, R. (2005). Re-Theologisierung der Politik? Wertedebatten und Mahnreden. Springe, zu Klampen.
Burger, R. (2019). Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat oder Was auf dem Spiel steht. Rudolf Burger: Multikulturalismus, Migration und Flüchtlingskrise. B. Kraller. Vienna, Sonderzahl.
Burger, R. (2020). Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Jenseits der Linie. R. Burger. Wien, Sonderzahl: 249-269.
(Burger 2005, Burger 2014, Burger 2019, Burger 2020)