Ich wiederhole mich: Finis terrae XL – wie vor dem Krieg

Die Nachtigallen singen, Waschbären kreuzen den Weg im Park und die Hunde freuen sich, dass die Menschen wieder mehr an die frische Luft gehen. Die Umgebung macht optimistisch, meinen viele, zumal Corona sich anscheinend wieder einmal zurückzieht. Und es ist ja nicht schlecht, wenn es besser wird…

So denkt man gerne, als hätte sich eine dauernde Gabe von beruhigenden Drogen endlich bezahlt gemacht.

Auffällig ist ein anderes Zeitsyndrom: die Wiederentdeckung des globalen Wirkens von Autokraten, Tyrannen, Selbstherrschern, oder wie man sie nennen mag, über die Zeiten, und ihre Wirkung auf die gegenwärtigen Politiker…das Genre ist nicht neu. Aber mit Trump, Putin, Xi, ist neue solide Lage von Gewaltherrschern aufgetreten, die eine unübersehbare Fülle neuer Diktatoren nach sich zieht. Der wichtige Autor Ariel Dorfman (* 1942) bespricht ein Buch von Ruth Ben-Ghiat: Strongmen: Mussolini to the Present. Dorfman, (https://de.wikipedia.org/wiki/Ariel_Dorfman) hier auch bekannt durch sein Stück Der Tod und das Mädchen, rezensiert nicht einfach die Anordnung der Diktatoren nach Einfluss und ideologischer Abstammung, sondern macht Beziehungen sichtbar, die – meine Worte: – das Böse auch verstehen lassen, nicht nur wissen. Gabriel Marquez spielt da eine Rolle, weil er für die Autorin das Wesen solcher Tyrannis im Herbst des Patriarchen zusammenfasst. Manchmal ist die Geschichte der vergangenen, auch der kurzfristig vergangenen, Tyrannis interessant. Mich aber bewegt zur Zeit mehr, wie sich das Rhizom, das Wurzelgeflecht, der gegenwärtigen Diktaturen mit einer gleichzeitigen Marginalisierung demokratischer Selbsterneuerung ausbreitet, fast wie ein Flächenbrand. Die Rezension heißt zu Recht „A Taxonomy of Tyrants“ (NYRB 27.5.2021), und Dorfman listet auch auf, welche Namen fehlen: man hat den Eindruck, die Liste sei unendlich, und niemand kann sie abschließen und zugleich Konsequenzen aus ihr ziehen. Ich lese diese Liste und ihre Genealogie eher strukturell. Wie kommt es zu Trump, wie werden die Analogien zu früheren Diktatoren plötzlich evident, – und was an dieser Fokussierung ist zu eng? Die Hierarchie der Tyrannen birgt eine Gefahr: bei Gewöhnung an Gewaltherrschaft und Lüge als Mainstream wirken manche dieser Verbrecher plötzlich „nicht mehr so schlimm“ und treffen gar oft auf die ebenso seit langen kritisierten Schwächen der Demokratie. Diese erscheinen ein wohlfeiles Mittel, sich mit den Tyrannen abzufinden – nicht sie zu akzeptieren, aber eben: so ist es ,,,und man kann nichts machen.

Dass es kaum eine Diktatur gibt, in der nicht ein guter Teil des so genannten Volks, die Leute also, der Pöbel, wenn ihr wollt, und die dienstfertigen Handreicher aller Schichten, aller: bis in die höchsten Intellektuellenkreise, dem Diktator als jeweils kleineres Übel sich unterwerfen, – das wird oft übersehen. Keine Diktatur ohne Follower. Keine. Und die Diktatur wird auch nicht weniger diktatorisch, wenn die Demokratien um ihre Reformen kämpfen oder Kompromisse schaffen. Das ist mein Punkt: vergleicht nicht dauernd die Missstände hier mit denen in Ungarn, Polen, Russland, China usw.

Warum jetzt, und jetzt alle gleichzeitig und sie treiben alle aus ähnlichen Wurzeln und scheinbar unkoordiniert, aber doch einander bis in die Details ähnlich. Die einfachste Erklärung ist, dass angesichts der Klimakrise hier eine letzte Generation von Abstaubern noch einmal die Macht auskosten möchte. Das muss auch dann nicht falsch sein, wenn andere Erklärungen genauer wären, etwa, dass mit der Selbstunsicherheit von Demokratie es einfacher ist, medial und mit Gewalt eine Zangenbewegung gegen normale Bürgerinnen und Bürger zu unternehmen, bevor diese wegen des einen, des Überlebens-Ziels sich alle zusammentun.

Wenn es um ein symbolisches oder apokalyptisches Szenario ginge, könnte man hier endlos über die Globalisierung der Tyrannentätigkeit und die Hilflosigkeit der unterworfenen Gesellschaften nachdenken oder lästern. Aber die Wirklichkeit ist anders: Wo diese Diktatoren herrschen, wird gefoltert und gemordet, hungern die Menschen und müssen ihre Gedanken und Beziehungen einschränken. Also fast überall.

*

Es wird zur Zeit nicht besser.

Wenn die „letzten Tage der Menschheit“ angebrochen sind, dann müssen sich die Gewalttäter nicht mehr maskieren oder tarnen. Aber wir müssen das auch nicht.

(Ich meine das Drama von Karl Kraus und nicht den Weltuntergang. Obwohl der Unterschied für viele nicht so deutlich und wichtig ist…für die Opfer nämlich).

*

Ich bin nicht verrückt geworden, und ich gehe nach wie vor in den Park und freue mich des Frühlings. In unserer privilegierten Weltecke geht das noch, gerade für unsere Schichten und sozialen Gruppen.  Der Preis, dass die Generationen nach uns dies alles auch können, steigt. Anderswo ist er schon unbezahlbar.

Während ich dies niederschreibe, an dem Tag, an dem wir das Gesicht von Lukashenkos Folteropfer sehen, an dem wir die Taxonomie der Gewaltherrscher für uns immer neu anordnen, wie jeden Tag politischer Überlegung, frage ich mich, warum ich Fragen stelle, die SO nicht zu beantworten sind.

Die Antwort ist Politik, und sie kann nicht nur im Reden und im Miteinanderredenwollen bestehen; wie können und sollen wir aber handeln? Das ist wieder Politik. Oft denke ich darüber nach, worüber die Menschen in solchen Grenz-Zeiten geredet haben, was sie getan haben, obwohl sie ziemlich genau wussten, was demnächst auf sie zukommt und was sie nicht würden vollenden können. Aber vielfach wussten sie, wissen wir, schon, was zu tun ist. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich lasse es Ingeborg Bachmann sagen:

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/alle-tage-265

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