Dammbruch und Leere

Das ist ein pathetischer Titel, ich weiss.

Der Dammbruch des Politischen schwemmt immer die Massen an Unrat in das Private, zusammen mit den Überresten eben der Befestigungen, die unsere Loyalität und Teilhabe befestigt haben. Solidarität, aber auch pragmatische Handlungsperspektiven sind, wenn nicht zerstört, so doch ausgehöhlt, unglaubwürdig.

Noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen, Prozesse gegen das liederliche Ministerkleeblatt anzustreben, mitsamt der korrupten Bürokratie, die sie befehligen. Noch sind es nur Ankündigungen, die auch einige Parteiheloten einschließen werden, die schon wieder abschieben, ausgrenzen wollen, noch um die letzte rechtsradikale Stimme der AfD weg- und sich zuzuschanzen. Aber die Anklagen werden kommen. Die Rücktrittsforderungen sind absolut richtig und seit dem 21. Juni 2021 hat die sogenannte Koalition jedes Recht verloren, sich zu verteidigen, alle drei Parteien. Tausende hätten seit damals gerettet werden können und werden jetzt geopfert.

„Der CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Generalstabsoffizier der Bundeswehr, Roderich Kiesewetter, hat die Bundesregierung für ihr verhaltenes Vorgehen in der Afghanistan-Krise kritisiert und lobte gleichzeitig die Weitsicht der Grünen. Im Gespräch mit SWR Aktuell-Moderatorin Katja Burck, sagte Kiesewetter: „In diesem Fall haben die Grünen die Entwicklung geahnt und ich bedauere, dass wir (die Bundesregierung) hier nicht intensiver nachgefasst, diskutiert und auch entschieden haben.“ Das, was jetzt in Afghanistan passiert, sei „ein Trauerspiel“. Es sei in den letzten Wochen zu viel Zeit verloren worden. Bündnis 90/Die Grünen hatten im Juni einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der unter anderem die „großzügige Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ vorsah. Der Antrag war von CDU als Regierungspartei abgelehnt worden.“ (https://www.swr.de/swraktuell/radio/cdu-politiker-kiesewetter-zu-afghanistan-gruene-haben-entwicklung-geahnt-100.html), 16.8.21. Fast, aber nicht ganz richtig: die Grünen haben das nicht geahnt, sie haben es schon gewusst. BT Drucksache 19/28962. Wir haben es gewusst. Übrigens hat sich die SPD der Rettung ebenfalls verweigert, und das Innenministerium – meine Bezeichnung dafür wäre strafwürdig – hat die Aufnahme von Ortskräften im Juni verhindert. Das ist in Kauf genommene Tötung von Staats wegen.

Bierdosen und soldatische Gedenksteine durften heimkommen, heil Zapfenstreich.

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In der Niederlage kann man, muss aber nicht den Sieger beschimpfen. Man kann ihn vorsorglich reinwaschen in der Hoffnung auf milde Behandlung.  Die Taliban werden der christlich-westlich-bayrisch-deutschen und amerikanischen Rhetorik nicht aufsitzen, auch wenn es noch immer Verhandler in Doha gibt, die glauben, wenn man nur an einem Tisch sitzt, hat man noch gute Karten in der Hand. Aber lass sie sitzen, denn abschotten wäre genauso fragwürdig – was die Verlierer tun, ist relativ weniger wichtig.

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Im letzten Blog habe ich versucht zu beschreiben, wie bei mir der Verlust von mehr als 15 Jahren afghanischer Erfahrung ausgelöst hat. Ich denke, die Erinnerungskultur an Afghanistan beginnt (wieder) und die an Krieg seit 2001 als besondere Variante. Dass die deutschen PolitikerInnen jetzt von deutscher Verantwortung faseln, geht noch durch, aber wo bleibt die Haftung, und wer haftet? Die Selbstbezüglichkeit dieser Frage ist bei Menschen, die nicht nur auf Befehl nach Afghanistan gekommen sind, anders: wie sind die Intentionen, zu helfen, zu gestalten, zu reformieren….entstanden, warum hat man sich ihnen angeschlossen, auch wenn etliches zuhause dann weniger gut geblieben ist, und vor allem wie und warum hat man weitergemacht, obwohl man sehr bald sehen konnte, was wohl das Ergebnis dieser Intervention sein würde, die unter den miserablen Vorzeichen der Bonner Konferenz von 2001 begonnen hatte. Noch sage ich „man“, aber ich meine schon auch mich selbst.

Wie war ich 2005 drauf, als der demokratische und kultivierte Freund Fayez als Wissenschaftsminister zurücktreten musste, von einer Reihe unfähiger Nachfolger beerbt, und wie war ich drauf, als Karzai das mühsam ausgearbeitete Hochschulgesetz nicht in Kraft setzen wollte (weil er den Widerstand der Nutznießer des rechtlosen Zustands fürchtete); wie war ich drauf, als sich die so hoffnungsvoll begründete Rektorenkonferenz schnell paralysierte…kurz: als sich alles, was „man“ meinte und ich vertrat, an Hochschulpolitik und Reform, auflöste bevor es noch feste Strukturen angenommen hatte?

Nein, nicht was ihr jetzt erwarten könnt, Enttäuschung oder gar Wut oder Resignation. Oder gar Abreise. Die Analyse und das Durchdenken dessen, was nicht geklappt hat, haben schnell gezeigt, dass eine Okkupation keine Reform durchsetzen kann.

Nur hat damals ein Lernprozess eingesetzt, der bis heute nicht zu Ende ist und in diesen Tagen den mehr als 15 Jahren nachtrauert, die einen anderen Weg hätten nehmen können.

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Über den Lernprozess, über die nächsten 15 Jahre, nicht jetzt. Aber eines ist mir ganz wichtig: noch heute wären die überraschten Regierungsmitglieder überrascht, könnten sie nachvollziehen, wieviel mehr die gebildeten und kritischen Eliten nicht nur die jungen, vom Westen, also incl. Russland, gewusst haben und wie wenig wir, der sog. Westen von Afghanistan wussten und wie langsam wir das Land gelernt haben. Für die meisten AfghanInnen hängt das nicht mit guter Zusammenarbeit zusammen, sondern mit Armut, Flucht, Vertreibung, Wiederkunft, oft mehrfach.

Viele geben heute den Eliten in Afghanistan die Schuld, dass die Taliban so leichtes Spiel mit der Rückkehr haben. Daran ist etwas richtiges, nämlich der durchaus egoistische und opportunistische Selbstbezug dieser Eliten. Aber warum das so ist, muss man sich fragen, wenn man nachvollzieht, wie sehr sich die Intervenierenden, im konkreten Fall auch die Deutschen, an ihrer eigenen Entwicklungshilfe bereichert haben und wie wenig Autonomie sie den AfghanInnen gelassen haben, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu definieren und zu regeln. Das gilt für viele der humanitären NGOs nicht, v.a. im Bereich Schulen und Gesundheit, aber die gehen mit Geld und Autonomie im Land auch anders um…Und wer hat denn kofferweise Dollars an die Warlords von den LKW abgeworfen, damit sich die Intervenierenden schrittweise durchsetzen konnten? Und wie kam es zu einer Verfassung, die vielem widersprach, was die Afghanen durchaus wollten und was wir, im Westen, wohl auch nicht wollten?

Ich weiß nicht, wir wissen nicht, wie sich die Taliban verhalten werden. Alle Spekulationen sind windig und beschädigen ihre Urheber. Wenn man jahre-, monate- und tagelang all das was wir wussten und hätten wissen können, ignoriert hat, dann soll man den Blick in die Glaskugel lieber lassen. Aber was ich weiß: dass noch immer nicht ehrlich mit einer Politik abgerechnet wird, die geschönt bis gefälscht (zum Beispiel Fortschrittsberichte des AA ab 2010); dass sich noch immer viele über den Freiheitssatz von Struck lustig machen, den sie nach wie vor nicht im Kontext kennen; dass Afghanistan wieder vergessen wird, wenn die Anlässe (Wahlen, Flüchtlinge, Abschiebungen) nicht mehr auf der Titelseite stehen.

Jetzt stehen praktische Rettungs- und Hilfsmaßnahmen an. Und dann der Aufbau einer politischen und kulturellen, politisierenden und kultivierenden Erinnerungskultur, die den Verantwortlichen keinen Bonus auf Erklärung und Rechtfertigung für ihre Überraschung gibt.

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