Die Lüge der Könige…ist nicht die Wahrheit der Untertanen.
Wenn ich jetzt lüge und sage, das sei ein Spruch des Philosophen Kant, dann glauben das einige, und andere fragen nicht nach, und wenn schon, zucken wieder andere die Schultern.
Nur sind unsere Minister keine Könige, und die Ministerinnen keine Prinzessinnen. Und wenn sie lügen, kann das zu ihrer Regierungskunst gehören.
Ich muss wieder zu Hannah Arendt greifen: In einer guten Interpretation wird sie zitiert: „Weil Lügen immer den Versuch einer Änderung des Bestehenden, nämlich der Änderung von (vergangenen) Tatsachen darstellen, sind sie für Arendt im Gegensatz zum Aussprechen der Wahrheit von vornherein politisch: „denn er [der Lügner] sagt, was nicht ist, weil er das, was ist, zu ändern wünscht““[1]. Das ist gut herausgesucht, und darum geht’s mir. Wenn der Pofalla gelogen hat, als es um das gehackte Handy der Kanzlerin ging[2]; als der Scheuer gelogen hat, wenn es ihm die Maut geht[3]; und dergleichen Beispiele sind Legion. Was aber soll durch die Lüge geändert werden? Das Faktische, die Wahrheit? Oder die Position des Lügners (ich bleib beim männlichen Lügner, er ist zahlreicher). Seine Position durch eine Lüge absichern, die von anderen zu schwächen, Wahlen mit Lügen zu gewinnen usw. – altbekannt.
Zu Afghanistan hat die Kanzlerin heute, am 25.8., nicht gelogen. Sie hat vieles richtig beschrieben. Beschrieben – sie hat die Fakten genannt. Und sie hat diese Fakten monatelang zu spät aufgerufen, sodass sie keine Wirklichkeit, sondern nur unerfüllte Wünsche genannt hatte. Fakten aber waren und sind die Warnungen, die Weigerung der betroffenen Ministerien zu handeln – aus Wahlkampfgründen und zur Abwehr von Geflüchteten – und es nützt ja niemandem, wenn wir noch drei Tage lang Menschen retten, zu wenige, auch wenn es viele sind, wenn wir das Land letztlich verlassen, in der mehrfachen Bedeutung des Wortes. Die Begründungen für das Nichthandeln sind faktische Lügen. Die Ablehnung der Rettung von Ortskräften durch CDU/CSU/SPD im Juni 2021 hat die Fakten und die Lügen auf den Kopf gestellt. Man MUSS kritisieren, wo man handeln hätte KÖNNEN. Man=wir, gespalten in die handlungsfähige politische Macht und uns=die diese Macht legitimieren müssen oder eben entlegitimieren.
Es wird immer und überall gelogen, das ist nicht so sehr das Problem als die Lüge zum Stärken der Position des Lügners, als in Verbindung zur Macht. Die „Unterlassene Hilfeleistung“ ist eine Lüge, der USA, der NATO, Deutschlands und der Bundeswehr, auch der afghanischen Eliten. Das Zögern gegenüber den Hilfeleistungen war auch von Klatsch, also von Glaubwürdigkeit heischenden Lügen, begleitet: „Also gibt der Klatsch zumindest die Lüge wahrheitsgetreu wieder, oder, wenn es eine selbst erfundene Geschichte ist, was jeder gern glauben würde“ (Julian Barnes).
Die Lüge von Merkel & Regierung heute ist, dass „man“ hinterher immer klüger ist; die Lüge besteht darin, dass man spätestens vor zwei Monaten klüger hätte sein können. Wir waren und sind klüger gewesen.
Die zweite Lüge ist, dass man nur „konditioniert“ mit den Taliban verhandeln könne, als ob die Verlierer eines Krieges die Konditionen der friedensheischenden Verhandlungen setzen könnten. Was man dort sagen wird und was man tun wird, ist eine andere Frage.
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Nur gibt es ein großes Problem. Wenn die hier geäußerte Kritik zutreffend ist, dann ist das eine politische Kraftprobe, eine moralische Kraftprobe, und auch eine pragmatische Kraftprobe. Nun kennt die Demokratie keine Könige, aber die republikanischen MachthaberInnen brauchen die Legitimation durch das Wahlvolk. Wir sind aber keine Untertanen. Und im konkreten Fall von Afghanistan nützt die Wahrheit, was man tatsächlich hätte tun können, wenig, wenn es darum geht, was jetzt getan werden muss und kann.
Dazwischen sterben Menschen, werden unterdrückt, entwurzelt. Auch diese Wahrheit kann im Prozess der „Aufarbeitung“ in ihr Gegenteil umgewandelt werden, weil wir nicht wissen können-wollen-sollen, was wir jetzt tun sollen. AfghanInnen aufnehmen, für sie sorgen und wo es geht, dort im Land, die unterstützen, die noch für ihre Gesellschaft arbeiten.
Man kann kein Versäumnis zurückholen.
Nach der Bundestagsdebatte sind einige Fronten klarer: die Koalition des Wegduckens ist zu Ende, bevor sie abgewählt wird. was jetzt noch bleibt, ist der Blick auf den Krieg der Lügen: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-08-26/page_2.487106/article_1.5392164/article.html. Hubert Wetzel konzentriert sich auf die USA: „-–Aber man sollte ihn (Biden), MD) nicht dafür kritisieren, dass er der erste Präsident ist, der die Wahrheit sagt: Amerika hat den Krieg in Afghanistan verloren. Es ist Zeit heimzukommen.“. Das gilt auch für die Ortskräfte und andere, die auf Deutschland vertraut haben…und sich auf dem Lügenteppich nicht niederlassen können.
PS: Annalena Baerbock hat eine sehr gute Rede im Bundestag gehalten. Sie unterläuft die Mühsal, zwischen Wahrheit, Fakten und Lüge hin und her zu wechseln.
PS: nach wie vor: Marcus Grottian u.a. info@patenschaftsnetzwerk.de mit Konto!
[1] Arendt, Hannah: „Wahrheit und Politik“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I, 2. Aufl., München 2013, S. 327-370. Hier zitiert bei Judith Zinsmayer https://www.praefaktisch.de/postfaktisch/hannah-arendt-und-das-postfaktische-zeitalter/
[2] https://www.welt.de/newsticker/bloomberg/article121224649/Merkel-steht-in-Handy-Affaere-hinter-Kanzleramtsminister-Pofalla.html
[3] https://www.gruene-bundestag.de/themen/mobilitaet/wie-die-pkw-maut-zum-fiasko-geriet