Abschiede

Wer sich ein Leben lang politisch interessiert, vielleicht auch aktiv gezeigt hat, nimmt in Kauf, lange Zeit oder auch spontan falsche Konzepte verfolgt und falschen Bezugspersonen gefolgt zu haben. Nichts Besonderes, vor allem, wenn es sich um beobachtende, wertende Menschen aus der dritten Reihe handelt.

Dass man hinterher klüger ist, gehört zu den blöden oder scheinheiligen Sprüchen nicht nur der ersten Reihe, sondern der Stammtische, die Meinung mit Politik verwechseln.

In diesen Tagen des Kriegs in der Ukraine und der drohenden wirtschaftlichen und sozialen Abstiege hört man diesen Spruch ebenso häufig wie die Floskel vom Wechsel, vom Umdenken und Umstieg in eine neue Politik.

Wenn das beim Volk ankommt, dann kann man mit winzigen Korrekturen so tun, als hätte man die Situation begriffen, in der wir sind und in der andere leben müssen. Wir, da fängts schon an, prekär zu werden: wir die Deutschen, wir die Europäer, wir der Westen, wir die Wohlständigen, wir Ältere mit Sorgen um unsere Enkelinnen, wir Hilfsbereiten, die auch an andere denken und mit ihnen fühlen.

Wenn man hinterher klüger ist, dann könnte man erklären, warum man JETZT den Menschen aus der Ukraine (noch) uneingeschränkt und besten Gewissens hilft, und warum das bei den afghanischen und syrischen Flüchtlingen nicht so war und bei anderen gar nicht. Bei uns, in Europa, in anderen Teilen des Westens. Es kann sein, dass wir Fehler nicht nur bereuen, sondern korrigieren. Dazu gehört aber eine Aufklärung über das HINTERHER.

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Das ist keine Lebensberatung, wie sie manche PolitikerInnen versuchen, indem sie die Ära Merkel, manchmal auch die Ära Schröder-Merkel in Zusammenhang mit dem Krieg der Putinrussen gegen die Menschen in der Ukraine in Verbindung bringen und jetzt die falsche deutsche Politik seit 1989, vor allem seit der Eroberung der Krim, in den Fokus nehmen. (Manches erinnert sich an die katholische Beichte, man spricht die Sünde aus, bereut sie, bekommt eine Buße – kein Gas, teures Benzin, Getreideknappheit). Dass und wie wir (fast alle, das FAST wird hier immer wichtiger) diese Jahre von der deutschen Russlandpolitik, von der deutschen Chinapolitik profitiert haben, wird dabei nicht in den Vordergrund gerückt; ebenso wenig der Hinweis auf diejenigen, die davon nicht profitiert haben, und teilweise jetzt erst recht leiden. Das Leiden der Ukrainer wird anerkannt, die Leiden anderer, an deren Unglück wir (als Nation) direkt oder indirekt beteiligt waren, erfahren weniger Anerkennung. Es hat fast etwas mit religiöser, geographischer, ethnokultureller Sym- und Antipathie zu tun, machen wir uns nichts vor.

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Es ist eine Zeit der Abschiede. Wenn PolitikerInnen aus dem Amt scheiden, ist da selten ein personaler Abschied für uns BürgerInnen – das war bei Willi Brandt so, aber sonst… – es handelt sich um den Abschied von einer Ära, wenn‘s wichtig ist, sonst geht’s ab in die Mülltonne der Geschichte. Bei Merkel ist es besonders interessant, weil ihr Amtsende in die Zeit des neuen großen Kriegs fällt.

Ich habe mich in meinen Publikationen, Blogs etc. in den letzten Wochen aus verwandten, aber unterschiedlichen Gründen der Kommentare zu Corona und zum Krieg Russlands gegen die Ukraine enthalten. Zu diesem Krieg muss ich heute schreiben, weil er uns vielleicht bald mit mehr Schrecken überziehen wird als die Bilder aus Mariupol es ansagen; weil das Wir – wir Deutschen, wir Europäer – auf einmal konkret betroffen ist, und nicht nur zu politisch ko0rrekten oder eben unkorrekten Meinungsäußerungen gedrängt wird.

Ich schreibe also über zwei Abschiede: den Abschied von der Ära Merkel. Und den Abschied vom Kriegszustand in Friedenszeiten, wie Slavoy Zizek schreibt, einer meiner beiden Referenzen in diesem Blog. (Zizek 2022). Zizek ist eine bei mir häufig umstrittene, aber immer anregende Referenz, die in die transdisziplinäre Region freien Denkens gehört. Die andere Referenz ist eine Rezension von Fintan O’Toole einer ganz neuen amerikanischen Merkel-Biographie von Katie Marton. (O’Toole 2022). Die NYRB gehört zu einem Bildungskanon, der meine tägliche „politische“ Aktualisierung in jedem Bereich komplementiert.

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O’Toole und Marton beschreiben sehr genau die Parallelität von Putins und Merkels Sozialisation, aber mit sehr unterschiedlichen Ausgängen hin zur politischen Macht. Hier zum Missbrauch, dort zum demokratischen Aufbruch. Beide werden undiskutierte Anführer/in jeweils ihrer Sphären, er in Russland, sie in Europa (eben mehr als nur Deutschland), unter unterschiedlichen Prämissen allerdings. Hier kann man das Verhältnis relativer Lokalität zur Globalität (siehe meinen gestrigen Blog) genau studieren. Ob Merkel wirklich die „Letzte ihrer Art“ (O’Toole) war, bleibt offen, Sie war jedenfalls herausragend jenseits ihrer realpolitischen Verdienste und Fehler. Das Putin nicht der letzte Diktator ist, gehört zu den Abschieden einer weitverbreiteten Vorstellung, einschließlich der falschen Scheu, ihn mit Hitler und Mao und Stalin zu vergleichen, und nicht mit irgendwelchen kleinen Autokraten.

War der Wandel durch Annäherung prinzipiell falsch, also seit Willi Brandt, oder wurde er unangemessen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs? Teilweise geben die beiden Essays Antworten.

Zizek macht eine tiefschürfende Analyse, einen gewagten Dreischritt: 1. Ein neuer Krieg würde das Ende der Zivilisation bedeuten, „wie wir sie kennen“ – wobei er schon als Dritter Weltkrieg mit lokal beschränkten Kriegen begonnen hat (dem stimme ich zu). 2. „Wir müssen einen neuen großen Krieg verhindern, aber der einzige Weg dazu ist die totale Mobilisierung gegen den heutigen „Frieden“. Kriegszustand in Friedenszeiten. Vielleicht ist dies der Begriff, den wir für unsere heutige Lage verwenden sollten“. Zizeks Friedenskritik kann ich teilweise zustimmen, seiner Schlussfolgerung anderswie auch. Ob es bis dahin geht, dass wir uns überlegen müssen, ob und wieweit wir so für die Ukraine sterben wollen, wie die Ukraine ihrer Zugehörigkeit zu Europa, ist ein Schwergewicht. (Nebengleis: dass die Rechten sich da plötzlich flüchtlingsfreundlich draufsetzen, kann man nicht groß ändern. Bleiben wir im Hauptstrang). 3. Jetzt kommt der Hammer. Huntingtons Kampf der Kulturen „IST die Politik am „Ende der Geschichte““, womit er ihn mit Fukuyama zusammenbringt. Und deutlich macht, dass die liberale kapitalistische globale Gesellschaftsordnung dazu führt, dass „ethnische und religiöse Spannungen die einzig legitime Quelle von Konflikten“ wird (wenn ich das verstehe, stimme ich dem sehr zu, bis auf Zweifel am Wort „legitim“). Aber ich meine zu wissen, worauf es hinausläuft: dass man bei diesem globalen Kapitalismus nicht stehen bleiben kann. Und will man nicht überfallen werden, muss man sich wehren.

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Zizek unterstützt den Protest der Russen gegen die Politik ihrer Anführer, dieser Widerstand sei „Patriotismus“, richtig. Und hier drehe ich mich wieder nach uns um.

Dass und solange wir den Ukrainer auf allen – auf allen – Ebenen helfen, sind die Motive zwar nicht egal, aber auch nicht im Vordergrund. Was machen wir, wenn es zu einem heißen Frieden kommt, zu einem lokalen Kalten Krieg?

Spontane Antworten dazu sind schlecht, auch meine wären es. Wie denkt man darüber nach? Zunächst: zu einem gewissen Grad kann man personalisieren. Das Trio Schröder-Merkel-Scholz hat Deutschland über mehr als ein Jahrzehnt bewusst und reflektiert in russische Abhängigkeit gebracht (Energie): die Annäherung war eine ohne großen Wandel, aber mit einer Abspaltung der Ökonomie von der Politik (dazu darf man Hegel und Karl Marx, oder Zizek lesen). Den Abschied von Merkel muss man nicht als Fanal der Kritik inszenieren, weil die meisten von uns von der Politik der Großen Koalition profitiert haben. Die Selbstkritik am Profit muss aber genau hinschauen, wo Merkel NICHT Putin gefolgt ist, in der Politik sicher stärker als in der Wirtschaft. (Übrigens wäre ein ähnliches Muster gegenüber China angebracht).

Und jetzt? Es wird kälter, langsamer im Verkehr und weniger in der Warenzirkulation. Ja, und? Die Sozialpolitik ist gefragt, um denen zu helfen, die wirklich frieren und hungern werden. Aber nicht denen, die seit Jahren wissen, dass sie mehr Leisten müssen, um den Klimawandel abzuwenden, sonst können sie sich selber gleich Kriegerdenkmäler für ihre Nachkommen ausdenken.

O’Toole, F. (2022). „The Last of Her Kind.“ NYRB LXIX(6): 4-8.

Zizek, S. (2022). „Heißer Frieden.“ SPIEGEL(13): 46-49.

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