Krieg ist.

Ob wir im Dritten Weltkrieg sind, oder gerade vor seinem Ausbruch stehen, oder ihn dadurch vermeiden, dass wir Russland nicht direkt angreifen – egal. Bis diese Phase des Kriegs vorbei sein wird, werden zig-Tausende Menschen sterben, verwundet werden, ohne Eltern und Kinder bleiben, und die verlorene Ehre aller denkbaren Vaterländer, vor allem Russlands, ist scheißegal, weil es ja Krieg ist.

Mein liebstes wichtigstes Gedicht seit 60 Jahren handelt davon, dass damals der Kalte Krieg dem Zweiten Weltkrieg gefolgt war:

INGEBORG BACHMANN 1953

Alle Tage

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.

Er wird verliehen
für die Flucht vor den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.

(Ingeborg Bachmann: Werke Bd. I: Gedichte. Piper Verlag. München 1978)

Wenn dieser unerklärte Krieg auch nur in einen brüchigen Waffenstillstand übergeht, ist das noch nicht der „Frieden“ des Kalten Kriegs. Aber es wäre schon einiges besser, oder? Oder gerade nicht. Die Söldner Putins sind noch nicht so weit, dass sie den Stern der Hoffnung tragen (dürfen); und die sich verteidigen, und die sich und ihr Leben und das ihrer Angehörigen verteidigen, sind weder Helden noch schwach.

*

Der Krieg bringt Phantasien hervor, die nur im wirklichen Frieden verblassen bis hin zur Unscheinbarkeit. Zu den wichtigsten dieser Irrlichter gehört die Konsequenz aus der Schuld, so wie wir ja auch nur fiktiv am Richterstuhl sitzen und den schuldig sprechen, der schuldig ist, und mit ihm alle, die zu seiner und ihrer eigenen Schuld beitragen. Dann halluziniert man, was man mit diesem Verbrecher alles würde gern anfangen, lieber heute als morgen. Und kommt er nicht vor Gericht, dann bleibt wohl nur das Eine.

*

Oder auch nicht. Die Literatur zum Tyrannenmord ist im Kern erstaunlich schmal. Und wirklich ausführlich wird die Ethik solcher Taten eher im religiösen Zusammenhang erörtert. Darf man das? Und wenn ja, welche Folgen hat das für das (ggf. sehr kurze) restliche Erdenleben der Täter?

Putins Sturz oder Tod: Was dann passieren würde | WEB.DE (die Webseite, die Putin in diesem Kontext nennt, ist sehr lang und sehr kontrovers).

Tyrannenmord – Wikipedia (diese Website ist erstaunlich flicken- und lückenhaft)

Am intensivsten ist die Auseinandersetzung nicht juristisch, sondern wenn es um die religiöse Ethisierung geht, oder eben jenseits der unmittelbaren Handlungsmöglichkeit (kann „ich“ der Attentäter sein?). Aufgeklärt kann man dazu auch Schiller lesen, aber in unserer Kultur führt das alles in die Nazizeit, zum 20. Juli, und zum Widerstand. Der kann richtig oder falsch sein, aber jedenfalls kein MORD, denn dazu fehlen die Qualitäten der Heimtücke und besonderen Grausamkeit.

Der Alltag fragt, sofern anständig, ob nicht die Ausschaltung des Tyrannen an der Spitze der Gefolgschaft besser sei als der letztlich unvermeidliche Sieg über diese Gefolgschaft in einem zermürbenden Krieg. Noch dazu, wenn Zweifel an der Unvermeidlichkeit gegeben sind. (Der Alltag, das ist großer anständiger Teil des Wir, aber auch der ist nie rein und frei von dunklen Flecken unmoralischer oder auch opportunistischer Ethik). Es geht natürlich um die vielen, die den Tyrannen erst hochgebracht haben, um dann von ihm unterworfen und geknechtet zu werden (selbst wenn es ihnen jetzt leid täte, wäre es zu spät). Es geht gegen sie. Das ist Krieg.

*

Je mehr die Zeit und die Technik der Geheimdienste fortschreitet, desto weniger Chancen haben die personalen Attentate auf die Führer. Wahrscheinlich bringen sie auch nicht mehr viel außer einer kurzfristigen scheinmoralischen Erleichterung. Dafür inszenieren diese Führer umso ungenierter die Morde an den kleinkalibrigen Gegnern, die es wagen, sich gegen sie aufzulehnen.

*

Angesichts der Vielzahl von Kriegen und Kriegsdrohungen und damit verbundener Verschlechterung von großflächigen Lebenssituationen sind Diskussionen über die Größe und Bearbeitbarkeit von Schuld eher müßig. Man muss bei den meisten „Schuld“ sagen, und es nur ohne Anführungszeichen bei denen lassen, deren Schuld das Maß der politischen und juristischen Bewältigung hinter sich gelassen hat.

Beim Attentat auf den Verbrecher sind die geschichtlichen Begründungen jedenfalls nicht im Vordergrund, es geht darum, ihn zu hindern, sein Tun fortzusetzen. (Es sind fast immer Männer, also kein Gendern). Oft wird aber im Narrativ das Motiv der Revanche als Legitimation verkündet.

Und hier denke ich, liegt die Verbindung zur persönlichen, privatisierten Phantasie, die sich vorstellt, man können an den Tyrannen Rache nehmen. Und damit noch etwas Gutes bewirken.

*

Jeder Kalte Krieg wird auch durch diese Phantasie beflügelt, es ist die ideologische Streumunition, die z.B. die politischen und ideologischen, auch religiösen, nationalistischen Differenzen etc. zur Legitimation der Attentate einebnet, wohlgemerkt: es geht um die Vorstellung, nicht um eine aktive Beteiligung. Daraus entstehen Diskurse, Theaterstücke, Kontroversen in Familie und Partei. Aber eben auch das Eingeständnis der individuellen Ohnmacht. (die aber ist nicht „alternativlos“, nur hat das schon Folgen für das eigene Bewusstsein):

Bei uns kann man damit nicht nur im linken Spektrum punkten, beim Tyrannen landet man mit denselben Argumenten im Lager oder Grab. Diese Auseinandersetzung findet statt, aber ein wenig abseits von der öffentlichen Wahrnehmung.

*

Der „gelungene“ Tyrannenmord bewirkt meist wenig bis nichts. Der versuchte und „missglückte“ schafft Märtyrer, Heilige und eine weitere Resignation. Eine ethische Debatte dazu findet nicht mehr statt, wenn man sich der demokratischen Verfassung und dem aufgeklärten Studium der eigenen Regierungsform versichert. Also: Es gibt keine Vorbilder für das, was die Einbildung fordert und die Wirklichkeit nicht hergibt.

Auch das ist ein Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit.

Währenddessen sterben noch Hunderte, Tausende. Es bedarf nicht der Attentate, um das aufzuhalten. Man kann helfen, wir können das, aber nicht so eingreifen, wie die Phantasie es uns vorspielt. Und trotzdem gilt: „Peter Weiss hat einmal sinngemäß gefordert: Schreiben, als wäre man unter Folter, aber wissen, dass man es nicht ist. Das ist gegen die Folter gerichtet und nicht zur Sanierung der Psyche des Schreibenden“ (Blog Februar 2020). Schreiben, reden, denken, als wäre man im Krieg. Wir sind nicht IM Krieg, vielleicht VOR dem Krieg, aber Krieg IST. Er wird nur nicht mehr erklärt.

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