Typisch deutsch

Die Kehrseite des nationalen Bewusstseins ist die Wirklichkeit. Deutschland, der Bremsklotz? Aber nein, hinten nachhängen erlaubt dann umso mehr Beschleunigung beim Überholen.

Allerdings: was wäre das Gegenteil von nationalem Selbstbewusstsein, Germany first! oder eben über alles, nicht über allem? Ich habe immer gesagt, einfach: Kosmopolitismus, kompliziert: Wiederherstellung des Primats der Politik über die Ökonomie. Aber schon die Diskussion der Frage stößt auf den geklumpten Widerstand von Unternehmen, Gewerkschaften, dem Milliardär- und Millionärspöbel, und vieler Intellektueller, die ihre geistige Unabhängigkeit durch soziales Engagement in Gefahr sehen. Tja, schimpf nur, sagt der deutsche Michel und streicht sich über den Bauch. Außerdem ist die Lebenserwartung dort niedriger! Wenn ich das Nachhinken in der Digitalisierung beklage, hält mir die Kultur entgegen, soviel digital ist ohnedies ungesund und obendrein hackeranfällig; wenn ich die deutsche Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine wegen der Öl- und Gasrechnungen auch nur erwähne, werfen sie mir vor, ich wolle, dass den Landsleuten kalt wird und die Wirtschaft zusammenbricht. Ich kann sagen, was ich will, es wird immer gegen die strahlende Aureole des zu verteidigenden Heimatlandes aufgerechnet.

Denn unser Max bleibt unser Max:

…Den Max darfst du nur loben, weiter nichts!
Denn unser Max bleibt unser Max!
Zwar, wer was sagen will, na der sag’s
Jedoch nur Gutes, denn ansonsten sieh dich vor!
Auch wenn Max dumm ist oder schlecht
Der Max bleibt Max, drum hat er recht
Und wer einen Witz macht, der hat keinen Humor!

(Geworg Kreisler, Max. Ein kleiner Ausschnitt)

seht ihr, schon entschuldige ich mich bei mein 5 Freunden, die auch Max heißen, obwohl es sich bei Kreislers Max um jemand anderen handelt. Ich beuge mich der Deutschen Erfolgsbilanz, pardon, ist ja nur beobachtet, nicht so gemeint. Denn es gibt ja wirklich viel gutes in unserem Land, nicht wahr? Wahr ist auch, dass es anderswo schlechter zugeht, dass andere ärmer sind (im Durchschnitt), dass andere weniger Bildung, Einfluss und Ansehen haben (im Durchschnitt).

*

Nicht einmal ich bin so blöd, die einfachen Rückständigkeiten des mächtigsten Landes in Europa so klischeehaft zu verbreiten. Aber ich bin ehrlich genug zu zeigen, wie nah an der Oberfläche diese Erscheinungen ihr Unwesen treiben. Sie sind eben nicht die Folge ethnischer, völkischer, kultureller Rückständigkeit, sondern Folge einer Politik, die Herfried Münkler zutreffend als 30 Jahre „sowohl – als auch“ bezeichnet – und von der ich sage, das ist nur so lange gut gegangen, weil wir uns das leisten konnten – und andere nicht, bzw. auf deren Kosten wir so weiter machen wollen. Wir, das ist eine Politik, von der viele nichts halten, gegen die aber noch mehr Menschen nicht viel unternehmen.

*

Angesichts des angezählten Klimatodes dieser Erde, also der Welt, ist vieles, das sich als Politik tarnt, purer Zeitvertreib privilegierter Köpfe in ihrer Blase. Das ist auch ein Argument für die Gelbwesten. Auch. Aber nicht nur. Ich habe das Gefühl, manche sitzen an einem Spieltisch und haben über der x-ten Runde eines anspruchsvollen Computergames die Welt um sich in die Grauzone der Unaufmerksamkeit gedrängt. Und das hat mit Deutschland nichts oder nur wenig zu tun.

Zeitenwende, wie sie der tatsächliche retro-orienjtierte Scholz nicht versteht, heisst auch, dass wir uns unserer Geschichte wirklich stellen müssen, d.h. nicht nur profitable, sondern auch schmerzhafte Lehren aus ihr zu ziehen. Ja, der Hiutler Putin Stalin Vergleich haut hin. Bitte schön, ja, aber Hitler war ja nicht „die“, sondern auch „wir“ (nie alle, ich weiß). ASls wir 1968 ernsthaft, mehrheitlich unter den Studis, festgestellt haben, der Faschismus sei noch nicht zu Ende, wurden wir (mehrheitlich) beschimpft und v.a. von den Konservativen ausgegrenzt. Da war Willy Brandt noch nicht Kanzler, bei ihm gab es wirklich eine Zeitenwende. Hin zur Demokratie und weg vom Globke-Kompromiss (Israel!), weg vom Gehlen Kompromiss, weg der eigenen Geschichte. Danach lief es ja wirklich besser. Aber dass die 15-15% Nazis bei Reps, NPD, AfD kein „Neuanfang“ unter neuen Vorzeichen sind, sondern dass es mit versäumten Neuanfängen zu tun hat…schwer zu diskutieren. Wenn ich heute für eine Europa-Armee außerhalb der NATO plädiere, werde ich wie verrückt angeschaut, weil wir und die USA doch…ja was? durch westliche Werte oder die Nuklearbewaffnung oder die – ohne Ironie herrliche West/Ost-Küsten verbunden sind? Oder alles drei, aber: spielen wir dabei eine wirklich bedeutsame Rolle? So wenig, wie 20 Jahre lang in Afghanistan. Ein kleine reiche Mittelmacht, da capo al fine, aber über den Anfang.

Was ich damit sagen will, ist klar: bei unerfreulichen Alternativen muss man=wir, das Volk – sich dennoch demokratisch entscheiden, der Mittelweg – siehe oben – bringt den Tod (Alexander Kluge) (oder wir sind, schon bevor wir angegriffen werden, im Krieg. Die Menschen in der Ukraine sterben, auch mit unseren Devisen).

*

Was daraus folgt? erst einmal wiederhole ich mich spenden, aufnehmen, helfen. Das ist klar, aber noch nicht die Adelung der Politik. Dann aber: schon die Geschichtslektion gegenüber a) den nuklearen Diktaturen R&C und b) dem völlig gespaltenen Patron USA gegenüber sollte nicht gelernt werden (folgenlose Didaktik), sondern Konsequenzen haben. Die Brückenrüstung der Ukraine ist ok, denke ich, aber keine Lösung. Die beginnt wo anders, bei der ERevision unserer Demokratie, und die wiederum geht nur, wenn das gehoben und unschädlich gemacht wird, was noch behindert, und nicht, was in hunderten Gedenkstätten und Büchern immunisiert (wird).

Mit den Diktaturen ist es paradox einfach und trotzdem schwierig. „Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen?“ fragt Timothy Snyder im SPIEGEL 22, S. 52 ff. und er analysiert ganz gut die letzten 150 Jahre. Ein Absatz ist mir da besonders wichtig: „Unausgesprochen bestand die Voraussetzung der Ostpolitik darin, nicht über die Ukraine zu sprechen, dem eigentlich zentralen Thema der Erinnerungspolitik (MD: in diesem Zusammenhang, nicht „an sich“). Snyder bezieht da unter anderem auf die doppelte Kolonialisierung. Und danach orinetierte sich die Ostpolitik auf Moskau, und so gut wie nicht auf Kiew.

Aber das wissen wir, es spielt nur in der Politik keine Rolle, in der Bildung und kritischen Kultur wenigstens eine gewisse. Snyders Abschluss hätte auch Scholz sagen können, hat er aber nicht: „Deutschland hat die Chance, mit seinen kolonialen Traditionen zu brechen, und die Chance, im Krieg gegen die Faschisten endlich auf der richtigen Seite zu stehen. Die deutsche Demokratie braucht das, und wir anderen (nicht nur die Ukrainer) brauchen die deutsche Demokratie“. Es ist nicht schwer, dem zuzustimmen, aber schwierig danach zu handeln. Und im übrigen ist dieser Teil der Kolonialgeschichte völlig aus dem Blick geraten.

Und die USA? Ich werde dauernd kritisiert und oft beschimpft, weil ich die USA nicht in den Topf China-Russland werfe, und das Sündenregister der USA ziert dann die Korrespondenz. Meine Amerikakritik lässt sich zwar sehen, aber sie dringt nicht durch. Ambiguität ist nicht das Metier des Sowohl-Als auch. Zu meiner großen Freude hat Jill Lepore nicht nur den Hannah Arendt Preis 2021 bekommen, sondern gestern live, zusammen mit Juri Andruchowitsch, Preisträger 2014, diskutiert.

(Vgl. Hannah Arendt Preis für politisches Denken, 3.12.2021, http://www.hannah-arendt-preis.de)

Da spricht sie über die USA. und über Spaltung einer Gesellschaft, die kein gemeinsames Verständnis von Demokratie erlaubt. Eine Grenze ist undurchdringlich: Abtreibung ist Mord und Gewehre bedeuten Freiheit ODER Gewehre bedeuten Mord und Abtreibung symbolisiert Freiheit. Es ist sofort klar, dass es hier keinen Mittelweg gibt (siehe oben). Sie zeigt auch andere Grenzen auf, etwa bei „News“ und Fakten, Fox versus demokratische Medien usw., und sie vergleicht 1939 und die durch FDR geeinte Nation. Ich frage (mich), was die Bindung und Allianz mit so einem „paralyzed giant“ für uns bedeutet, und nicht wie wir die bestehende Bindung ausgestalten. Und Andruchowitsch ergänzt, dass Russland seine abgespaltenen Demokratie nicht freilässt, was die EU umgekehrt selbst dort zu8lässt, wo es nicht mehr um Demokratie geht. (Und ich frage mich im Kontext, wie wir das im Verbund mit den USA politisch weiterentwickeln).

Wir haben vergessen, wie wenig Mut es bei uns braucht eine Meinung zu haben sie zu äußern. Belarus und Russland zeigen uns, was der Unterschied ist – wobei es auch für mich schwerer als vor 30 Jahren ist, aus den USA Material und Fakten zu beziehen, um hier an der Demokratie und Kultur zu arbeiten; was bei Russland immer schon die Parteinahme für eine Spaltungsseite bedeutete, seit meiner Arbeit mit Novosibirsk 1998).

Hier schließt sich der Kreis: Befreiung, nicht Freiheit, als praktisches Feld unserer Politik verlangt auch von uns die Aufrichtigkeit gegenüber dem, wie wir so geworden sind, und nicht bloß die Entscheidung, für wen wir und warum mehr Empathie wahr machen.

*

Hier geht es nicht um Ost-West, nicht um die Ukraine unter Russland, oder um Russland und die USA. es geht erst einmal um uns selbst, damit wir wissen, von wo aus wir handeln.

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