Jüdischer Einspruch: Mayday. M’aidez!.

Der Notruf hängt über allem, wie eine dunkle Wolke. Über die Hilferufe hinwegzuleben, ist ebenso notwendig wie schwer erträglich.

Viele, vor allem in Politik und den Medien, wollen die Welt schwarz – weiß sehen, damit die Entscheidungen für oder gegen einen Partner, eine Kriegspartei oder eine Lebensentscheidung eindeutig sei. Man muss über den Wert der Eindeutigkeit aber einmal nachdenken, bevor man sich ihr stellt.

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Nicht nur Selenskyj auf der einen Seite (weiß), oder Putin und Kyrill auf der anderen (schwarz) verlangen diese Eindeutigkeit. Damit liefern sie, unbeabsichtigt, Munition der Gegenseite, weil die bloß in die Geschichte schauen muss, um die Flecken auf dem Kleid des Gegners auszumachen. Das wiederum nutzen die Unaufrichtigen udn Zögerer, um von Außen den Kontrahenten immer die Schuld am Grauen gleich zuzuschreiben: der Westen hat Russland dazu getrieben…die Ukraine hat eine dunkle Vergangenheit im WK II, … Putin verteidigt nur eine große Kultur….wir unterstützen die Ukraine, aber nicht ohne russisches Öl, das den Krieg der Russen finanziert….

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Schwarz, aber nicht weiß.

Slava Ukraini is no longer the a slogan of the perpetrators of anti-Jewish violence; it is a slogan of a country defending liberal democratic values, whose president is a descendant of Holocaust survivors

(Magda Teter: Rehearsal for Genocide, NYRB 9.6.2022, 15-16)

In dieser Rezension dreier neuer Geschichtsbücher endet eine Abhandlung über die Pogrome in der Sowjet-Union und der Ukraine im 20. Jahrhundert, und keineswegs wird hier eine oder die andere Seite weißgewaschen. Aber der letzte Satz ist nicht nur Programm, er zeigt auch die Veränderung: Slava Ukraini war der Schlachtruf der Ukraine im Bestreben nach Unabhängigkeit 1914, und dieser Ruf hat auch die ethnisch inspirierten Pogrome der frühen Jahre nach 1918, im ukrainisch-russischen Krieg befeuert. Die neue Sowjet-Union hat sich dagegen gestemmt, oft selbst die Juden in Schutz genommen, was später bei den Nazis den Begriff der „jüdisch-bolschewistischen“ Politik hat entstehen lassen (vgl. auch umfassender https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdischer_Bolschewismus).

Dass Putin heute antisemitisch und antijüdisch argumentieren lässt, v.a. durch Lawrow) und dass die christlichen Kirchen darüber gespalten sind, muss genauer studiert werden, damit es nicht entschuldigend aus der Geschichte „erklärt“ wird, wo der sowjetische Antisemitismus dann ausgeblendet würde. Nein, das ist schwarz, ohne die Ukraine weiß zu waschen. Wozu auch, sie ist eindeutig in diesem Zusammenhang aufgehellt.

Die drei Quellen der Rezension sind Elissa Bemporad, Jaclyn Granick und Jeffrey Veidlinger. Seriöse Verlage.

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Die Enthistorisierung zur Rechtfertigung der Gegenwart ist eine beliebte Methode, zumal wenn sie sich der Geschichte selbst bedient. Lawrow ist ein unmoralischer und böser Politiker, aber nicht dumm. Wenn er sagt  „Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind“ (Mai 2022), dann steckt dahinter wieder ein schwarz-weiss-Muster, das angetan ist, an sich gegnerische Kräfte hinter dem antijüdischen Diktum zu vereinen. Versucht einmal, ein richtiges Gegenargument rhetorisch schlagkräftig zu entwerfen….

Eine Lehre aber ist für die Politik daraus zu ziehen: man kann auf der „weißen“ Seite sein und die „schwarze“ bekämpfen, ohne dass die Welt dazwischen sich einem anschließt (d.h. sehr hart: wenn man ein Opfer retten will, darf man nicht zuerst die guten und schlechten Seiten des Opfers abwägen, bevor man es rettet. Oder man rettet gar nichts als sein eigenes Selbstbewusstsein).

P.S. Drei Stunden nach diesem Blog lese ich Jürgen Link: „Die affektive Seite des binären Reduktionismus“. Link hat die KultuRRevolution gegründet, jetzt, in Heft 82, schreibt er zum gleichen Thema mit der selben „schwarz-weiß“ Argumentation. S.11. Das freut mich, weil wir selten einer Meinung waren, u.a. zu Afghanistan. Und es freut mich, das das Problem offenbar nicht vergraben und unzugänglich ist.

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