Schluss jetzt. Jetzt schon?

Weil die Reaktionäre, die Neoliberalen, die Libertären und ihr schmerbäuchiger Anhang schon gar nicht mehr daran glauben, dass es künftige GENERATIONEN (also Ururenkel und noch weitere) geben wird, häufen sie jetzt Schulden und Umweltvernichtungen und andere Unzuträglichkeiten diesen fiktiven Nachnachnachkommen auf. WENN die Mindestziele beim Klima, wenn die untersten Armutsbegrenzungen, wenn der Erhalt von Artenvielfalt etc. NICHT gelingen, dann allerdings ist das auf JETZT ausgerichtete Verhalten dieser alternden Bande zu Lasten lebender und kommender junger Generationen verständlich, folgt sowohl der Marktlogik als auch der Diktatorenberuhigung. weltweit. und dass ein reiches Land wie Deutschland solches in vielen Bereichen mitmacht, ist auch kulturell und zivilisatorisch. ungut.

NEIN, das ist weder Kulturpessimismus noch Schwarzseherei, das ist der gebotene Realismus, angetrieben auch von der Rückschau auf die letzten, sagen wir, fünfzig oder sechzig Jahre. Realismus heißt, dass man NOCH etwas ändern kann.

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Anlass zu diesen düsteren Gedanken ist die Häufung derartiger Betrachtungen in den Medien gerade am langen und in meiner Gegend strahlenden langen Wochenende. Statt Feiertagslaune versprühen Philosophen und Wahrsager diese Wahrheiten, in der Hoffnung dass irgendein Geist, heilig oder weltlich, die Hirne der aufgeweichten Treibenlasser doch noch zusammenkehrt und vielleicht aktiviert.

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Vorhang auf. Wolkenloser Himmel. An den Rändern der überbevölkerten Parks gibt es noch Sumpfflächen mit herrlichen gelben Lilien und tatsächlich einigen Insekten, selbst Stechmücken sind noch nicht Glyphosat-gesättigt und suchen Menschenblut, man hört ein Kind, das einen, einen, Schmetterling sieht und bejubelt, und alles ist vom Regen vor vier Tagen etwas erfrischt. Bescheiden mahnt die Ethik, freuet euch des Lebens. Bleibt uns ja nichts anderes übrig.

Vor etwa 50 Jahren hatte ich angefangen Listen der katastrophal empfundenen Fehlentwicklungen des Kapitalismus anzufertigen, mehr sozial- als umweltpolitisch ausgerichtet, aber damals schon skeptisch gegenüber der undifferenzierten sozialistischen Anthropologie, die die genetische Gleichheit der sozialen vorziehen musste, um ihre Ungerechtigkeiten zu verbergen. Schade um die Zeit, diese Listen zu erneuern, sie sind im Grunde analog, nur ist einiges sehr viel schlechter geworden, während sehr viel Kleines besser geworden ist. Allerdings: Kriege und Umwelt sind die Unabhängigen Variablen, die sich nicht diskursiv wegreden oder verschweigen lassen.

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Vorhang weiter auf. Weil der Augenblick SO SCHÖN ist, verweilt er doch nicht. Wo steht geschrieben, dass das Richtige, das Wahre, das Schöne beständige wäre als die Wirklichkeit? Aber es ist ja auch da, und die zergrübelte Welt wird auch nicht besser, mahnen die hunderten Ratgeberlein, Büchlein, die als Geschenke zu allen Anlässen wirklich taugen. Vielleicht sind die Lebensumstände der Mehrheit in den kapitalistischen Staaten nur deshalb besser als die der Mehrheiten in den Diktaturen und parasozialistischen oder ungeregelten Gesellschaften, weil sie entgegen ihren Philosophen und Zukunftsforschern nur für diesen Augenblick regieren und wirtschaften? Sich mit Händen und Füßen gegen die künftige Realität zu stemmen, jetzt zu kassieren, jetzt zu konsumieren, jetzt Gutmensch zu sein, die Hauptsache, man konzentriert sich nicht wirklich auf das letzte Fünftel (so groß ist die Minderheit bei uns, wenn nicht größer), dessen Marginalisierung unsere Lebensumstände so angenehm macht. Kinderarmut in Deutschland? – hä, wer sagt denn sowas? Altersarmut in Deutschland? – Wir haben doch die Rente! Analphabetismus in Deutschland? – es muss auch Dumme geben; Klimakatstrophe? – Und die Arbeitsplätze, life-work-balance, und Rekrutierung neuer Flugbegleiter in den sonnigen Süden. Etc., etc., nicht schon wieder jammern. Und dass es anderswo kein Fünftel, sondern die Hälfte oder noch mehr sind, die schlecht leben und für die JETZT ein mieser Begriff ist, haben wir zwar mitverschuldet, aber die sind doch Diktaturen und nicht wir. Diese „liberale Logik“ kotzt mich jeden Tag an, wenn sie sozusagen amtlich verkündet wird.

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Vorhang noch weiter auf. Man geht durch ein Reservat, von dem man wünscht, es wäre in Zukunft größer, weniger außergewöhnlich. Es wäre „normal“.

Könnt ihr euch an das Partisanenlied „Bella, ciao!“ erinnern. Am Ende ist man unter einer schönen Blume begraben. So, wie man ewig und unumkehrbar im Grab verwest, so kurz blüht die Blume. Dann ist auch sie verschwunden. Die verkürzte Erinnerung ist eine Brücke zwischen der Geschichte und Jetzt.

Dazu passt Olivette Otele in einem Interview mit Antonia Gross, Berliner Zeitung vom 4.6. „Arme weiße Männer „Ich habe kein Mitleid mit der Mehrheitsgesellschaft“. Die Unterschiede in der Mehrheitsgesellschaft und die Unterschiede zwischen Gesellschaften werden hier herausgearbeitet. Und ich denke: die Zukunft im Jetzt?

Heisst: handeln, spenden, kritisieren.

Heisst: Vorhang auf, bevor er zugezogen wird.

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