Keine Zeit für spitze Schreie. Viele haben mich in den letzten Jahren gedrängt, den Unterschied zwischen USA und den Diktaturen Russland und China einzuebnen, wenn ich ihn hervorgehoben habe. Das war so etwas wie ein Grundton meiner Arbeiten auf den politischen und kulturellen Konfliktfeldern. Gerade beim Ukrainekrieg wurde ich oft aufgefordert neben der Kritik an Putin die Mitschuld des Westens an diesem Krieg wenigstens anzuerkennen (etwa in der Linie von Wagenknecht).
Warum ich hier subjektiv von mir schreibe? Weil ich Familie in den USA habe, weil ich seit Jahren Kritik und Erbschaft dieses Landes im eigenen Habitus verarbeite und weil die heuchlerische Ablehnung der USA durch ansonsten kluge Menschen politische Urteile erschwert (so sagte mir ein Freund, er kritisiere die USA eben heftiger als Russland, weil man über die Wirklichkeit dort weniger wisse als über die amerikanische, und das sei schon wichtig für die Urteile über beide Systeme…).
Nun ist es den meisten egal, was ich denke, ich verlasse diesen subjektiven Türöffner. Gestern waren in den USA nach dem Urteil des Obersten Gerichts zum Schwangerschaftsabbruch und in Deutschland nach dem Bundestagsbeschluss gegen das ärztliche Informationsverbot dazu gegensätzliche Stimmen zu hören, und eine öffentliche Debatte nimmt Fahrt auf.
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Es gibt einen komplizierten Zugang zum Problem. PolitikerInnen aller Lager bauen in ihre Rhetorik bestimmte Singulare ein, die in sich bereits den Keim des Konflikts tragen, weil dieser Singular die Wirklichkeit partiell ausschließt (lest dazu Marlene Streeruwitz (Streeruwitz 2021)). Mein Beispiel hier ist „der Westen“. Abgesehen davon, dass das Gegenstück, „der Osten“ gar nicht verwendet und bestimmbar ist, sondern früher mit dem kommunistischen Regime gleichgesetzt wurde (Ostpolitik), aber nach 1989 wie ein Patchwork aussieht. Der Westen, gemeinhin meint er die demokratischen Gesellschaften in Europa und Nordamerika, allen voran die Führungsmacht USA. Waren wir jemals dieser Westen? Der Gebrauch des Begriffs hat sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die USA konzentriert, Siegermacht und demokratisches Vorbild zugleich, aber schon damals nicht weiß (=gut) gegen das rote (=schlechte) System des Ostens. Westen mit Demokratie gleichsetzen, wieder so ein Singular, geht. Aber dann muss man Geschichte sich aneignen. Der Unterschied zwischen der amerikanischen Verfassung und dem Contrat social (Rousseau) (Dazu kurz: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes – Wikipedia) trägt bis heute und spaltet die Philosophie im Westen, wie viele andere Unterschiede auch. Dazu: (Lepore 2018) über eine wirkliche Geschichte der USA. Zusammengehalten wird dieser singuläre Westen durch einen tatsächlich funktionierende, also auch mit Mängeln behaftete Demokratie und Grundrechten, die den Diktaturen „im“ Osten abgehen. Dass der Nord/Süd-Konflikt im Westen für gewöhnlich nicht vorkommt, ist einer Mängel (Das kann man am derzeitigen Konflikt um Antisemitismus und Antikolonialismus an der documenta 15 genauer sehen).
Wie sehr wir in den westeuropäischen Ländern von den USA mit geprägt waren, kann man an der 68er Bewegung und der linken Amerika-Kritik ablesen: kulturell ist hier der fast „dialektische“ Austausch nicht nur zwischen Westeuropa, sondern viel weiter und ungleichmäßig, und den USA evident.
Hier ist ein wichtiger Haken: ein Teil des Antiamerikanismus weiter Teile der linken und liberalen Diskurse hat keine linke (also sozialistische oder sozialdemokratische) Herkunft, sondern teilt seinen „Antikapitalismus“ mit der Debatte zwischen „unserer“ Kultur und der Zivilisation des Westens, die vor und im und nach dem Ersten Weltkrieg sehr massiv gewirkt hatte. (Der Faden zieht sich auch vom später ganz anders argumentierenden Thomas Mann bis hin zum Einfluss des amerikanischen „Kampf der Kulturen“ (Fukuyama, Huntington)). Der Haken ist, dass anscheinend dem westlichen=globalen Kapitalismus kein wirksames Gegenstück gegenübertritt, sondern eine Vielzahl von Varianten, die alle auch davon leben, dass dieser westliche Kapitalismus auch keine Einheit, kein Singular ist.
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Also rechnet man auf. Vietnam gegen Afghanistan ist ein Beispiel, an dem man das gut abhandeln kann; Einflusssphären, Atomwaffendrohung, Lebensstandard versus politische und kulturelle Freiheiten, Grundrechte versus Verhaltensdiktatur etc.
Schauen wir in die USA der letzten Monate:
Es kommt einem das Kotzen – pardon – wenn man die terroristischen Waffengebräuche sieht mit hunderten Toten, wenn man die Politik gegen Assange analysiert, wenn man die faschistischen Auswirkungen des Trump-Regimes auf Gerichte, nicht nur den obersten Gerichtshof, wenn man die Auswirkungen des „Exzeptionalismus“, (Danner 2011), also der Ausnahmeposition der USA, bei den internationalen Gerichten und Abkommen sieht, vor allem nach 9/11; wenn man Guantanamo analysiert.
Ich sage bewusst faschistisch und beziehe da ebenso bewusst die meisten christlichen Aktivistengruppen und weißhäutigen Suprematisten der USA mit ein. Spaltung der Gesellschaft zwischen demokratischen und faschistischen Kräften, Spaltung der Ökonomie und in der Folge der Politik.
Aber schauen wir uns in Europa auch an:
Faschistoide Gesetzgebung in Polen, faschistische Regierung in Ungarn, kaum ein Land, in dem die Faschisten weniger als 15% in den Parlamenten stellen. Das hält die Demokratie – nicht? Nicht länger? Weiterhin? – aus…dto. In den USA?
Wäre es so einfach.
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Sehr vereinfacht heißt die jetzige Situation, dass die Verbindungen, Bündnisse, aber auch komplementären Geschäfte unter den Gegnern des Angriffskrieges von Putin & der russischen Macht auf die Ukraine eine Hierarchie angenommen haben (mussten? Konnten?), die mit unserem, weiteren, liberaleren Politikverständnis kollidiert (Türkei, NATO-Politik, Öl aus dem Nahen Osten etc.). Das kann, muss, man kritisch sehen, aber so, wie das Robert Habeck tatsächlich tut (contre coeur, nicht kontrafaktisch). Wenn wir uns nur auf die EU konzentrieren, dann gilt eine Überlegung, die ich meinem Kollegen Jan Koehler in ihrer Prägnanz verdanke:
Der Sozialanthropologe Georg Elwert erklärte seinen Studenten den brillanten Aufsatz von Albert Hirschman „Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft“ seinerzeit am Beispiel des politischen Konfliktes um Schwangerschaftsabbrüche in den USA einerseits und in der Bundesrepublik andererseits. Das zentrale Argument Hirschmans ist, dass die Kohäsion von liberalen Gesellschaften nicht auf Gemeinsinn, sondern in der (institutionell verankerten) Fähigkeit gegründet ist, Entweder-Oder Konflikte in Mehr-oder-Weniger Konflikte umzuarbeiten. Elwert nannte dies Alternativ- und Gradualkonflikte.
Abtreibung in den USA wurde zunehmend zu einem emotional massiv aufgeladenen Alternativkonflikt, der zudem in den essenziellen Kategorien der Grundrechte auf Freiheit und Leben ausgetragen wurde.
In Ländern wie Deutschland wurde das Thema hingegen (immer wieder) institutionell kleingearbeitet – der politische Streit ging nicht um das Prinzip, um Alles oder Nichts, sondern um viele Details, wie Zeiträume, Indikationen und letztlich auch Dinge, die heute anachronistisch anmuten, wie das Werbeverbot. Diese kleinen Dinge brauchte es aber, um immer wieder eine konsensfähige politische Mitte für diese emotional leicht aufzuladenden Fragen zu finden. Es waren zunächst die politischen Institutionen, nicht der gesellschaftliche Diskurs, der diese Konfliktarbeit immer wieder geleistet hat (in einigen EU-Ländern hat der gesellschaftliche Diskurs dann wohl die Institutionen in dieser Frage – wie auch in der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe – überholt, aber das ist eine jüngere Entwicklung).
Die langweilige Alte Tante EU war (ist?) die Großmeisterin im Kleinarbeiten von Konflikten, für die sich bis vor kurzem (und seit noch kürzerem wieder) Nationalstaaten an die Kehle gegangen sind – und dafür hat sie gerade noch rechtzeitig und zu Recht den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. (Jan Koehler, 25.6.2022)
Auch hierzu kann man Varianten einbringen und seine Politik aushandeln. Aber die gesellschaftlichen Spaltungen sollten den Westen nicht vereinen. Was die USA angeht, hat Jill Lerpore vor ein paar Tagen in Bremen (Hannah-Arendt-Preis) herausgearbeitet, dass die Spaltung unter dem Aspekt „FREEDOM“ undüberbrückbar ist: Abortion = Murder, Guns = Freedom versus Abortion = Freedom, Guns = Murder.
Nun, wir können es anders machen und unsere Spaltungen verringern (Dazu gehört übrigens, die CDU Stimmen zur gestrigen Abtreibungsinformationsfreigabe zurecht zu weisen, die klingen ganz nach dem evangelikalen Duktus in den USA).
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Zurück zur Frage, was sind die USA für uns? Dazu grundsätzlich: Partner müssen nicht Freunde sein und schon gar nicht alle Werte teilen (Das spräche für eine eigene, europäische Verteidigungsmacht, die würde allerdings teurer sein als die NATO-Mitgliedschaft; es spräche auch für ausgetragene Konflikte (Fall Assange, auch gegen England). Freunde müssen nicht konfliktfrei sei, auch Verbündete nicht (Einstimmigkeit ist immer ein Zwangsmittel). Und dann natüßrlich Weltpolitik, diese Fragen etwas anders stellen: was sind wir für die USA? Wenn uns die Russen mit taktischen Atomwaffen angreifen, sind wir beschädigt, nicht die USA jenseits das Atlantik….).
Aber das ist große Politik und gehört nicht in den Blog. Was hierher gehört, ist die Abkehr vom s-w Denken. Kein Opfer ist überall und ganz unschuldig, und man bekämpft den Gegner nicht wegen seiner goldenen Kuppeln. Unschuld ist keine Kategorie in Konflikten, wo die Schuld und die Handlungen eindeutig sind, es geht auch nicht um Wegschauen oder Kleinreden.
Danner, M. (2011). „After September 2011: Our State of Exception.“ NYRB 58(15): 4.
Lepore, J. (2018). These Truths: A History of the United States. New York, Norton.
Streeruwitz, M. (2021). Geschlecht. Zahl.Fall. Frankfurt, Fischer.
Die Zeitschrift vorgänge widmet sich 2000 (# 149) dem Thema „Linker Antiamerikanismus“. Schon lange her.