Wären die Diskussionen um die blödsinnigen faschistoiden Designs auf dem großen Bild an der Documenta 15 die einzigen zum Thema gewesen, dann wäre alles klar. Solche Rassismen fallen nicht unter die Kunstfreiheit, sind antijüdisch und gehören entfernt. Basta…Claudia Roth hat es gesagt, wie es sich gehört, hatte ich anfänglich gedacht. Leider muss ich das zurücknehmen, nachdem ich alles dazu von ihr gelesen habe und ihren Vorschlag nach Bundeseingriff und Zensur wahrnehme.
Was unbedingt zu lesen ist und zu eigenen Gedanken anstiftet: Eva Menasse: Im Rausch des Bildersturmsd, SPIEGEL 27 S. 40-41
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Nun waren aber im Vorfeld geradezu Chöre zu hören, meist musste man lesen wie Antisemitismus gegen Antikolonialismus gegen Kunst gegen Freiheit gegen außereuropäische Kulturblickwinkel gegen identitäre Profilierungen etc. ausgespielt wurden, eingespielt …. Diese Chöre wurden durch mehrere Untertonreihen im Basso continuo angereichert, antimuslimische Kritik als Rüstung der Anti-Anti-Semiten, rechte Politik unter dem Deckmantel der Israelfreundlichkeit usw. ALSO NICHTS NEUES.
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Ich bin keine Stimme in diesen Chören. Weder das Vorfeld hat mich groß aufgeregt noch sage ich was zur Documenta bevor ich nicht dort gewesen bin, aber Halt: ich sag doch was. DASS Israel diesmal mit keinen VertreterInnen eingeladen war, wird „exzeptionalistisch“ begründet, weil ja 150 weitere Nationen auch nicht eingeladen waren. Das ist eine hochbrisante ambivalente Angelegenheit, für Veranstalter und Kritiker gleichermaßen, bei den Begründungen der Kritik verheddern sich viele. Das Argument, es seien ja auch Palästinenser eingeladen, ist so ein Gang auf des Messers Schneide, denn am Ende läuft das Argument auf die Trump Philosophie hinaus, truth müsse immer mit der alternative truth begegnet werden. Dass man Israelis einladen hätte können, kein Zweifel, ob man sie einladen hätte sollen, hängt mit dem Konzept zusammen, nicht mit der „quid pro quo“ Formel.
Der Exzeptionalismus, d.h. die Rechtfertigung außergewöhnlichen Verhaltens (=sich Freiheiten Herausnehmen) wegen außergewöhnlicher Eigenschaften (=Macht), gehört meist den ganz großen Großmächten USA, Russland, China. Aber er findet sich auch in den Diskursen auf allen Ebenen. Es gibt Menschen, die Israel „exzeptionalistisch“ beschreiben, um sich als anti-anti-semitisch zu etikettieren. Und es gibt Menschen, die den Antisemitismus weit von sich weisen, wenn und weil sie Israel wegen der Politik im Westjordanland und im Gaza kritisieren. Wie gesagt: es geht um die Diskurse und nicht um die Wirklichkeit, schon gar nicht die politische.
Dabei bleiben die Grundrechte und Pflichten in der Demokratie auf der Strecke, einschließlich des Austeilenkönnens und Einsteckenmüssens – bis zu einem bestimmten Grad, immer. Darauf wird Interessenpolitik gekocht. Und man hat wieder genügend Nahrung für Empörung.
Was mich empört ist, dass die grausigen Anlässe für diesen Konflikt nicht benutzt werden, um eine wirkliche Auseinandersetzung zu führen. Die geht nicht um den lächerlichen BDS, der auch dort verkehrt ist, wo er nicht anti-israelisch oder antisemitisch ist, die geht nicht um das post-koloniale Aufrechnen nicht-erinnerter Kulturen, die geht auch nicht um das Fremde und das Eigene. Die geht um die kritischen und konfliktreichen Aspekte von Ansätzen und Ansprüchen, die alle ihre partielle Legitimation haben und einander ambig gegenüberstehen. Ambig = je nach dem System in dem ich argumentiere, gerechtfertigt oder nicht; anders als ambivalent.
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Wer auf dieser Debatte sein Süppchen kocht, ist unangemessen.
Bitte lest: Susan Neiman im Interview mit Sonja Zekri: https://www.sueddeutsche.de/autoren/sonja-zekri-1.1409260
und meine früheren Blogs zum Antisemitismus. und mein Buch „Der Antisemitismus macht Juden“ 2007
NACHTRAG
Herr Scholz fährt nicht zur Documenta. Der Streit geht weiter. ES IST KEIN STREIT UM KUNSTFREIHEIT, es ist ein Streit um EIN WORT – ANTISEMITISMUS. Und wir müssen mitansehen, wie dieses Wort, das längst KEIN BEGRIFF mehr ist, instrumentalisiert wird. Man legitimiert seine politischen Vorstellungen und Handlungen allein damit, sich als Gegner des Antisemitismus dar- und vorzustellen.
Erich Fried: „Ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist.“
Gegen den Antisemitismus zu sein, ist keine Kunst. Ihn zu verstehen und seine Herkunft in uns, um uns und gegen uns aufzuklären, ist mühsam und oft selbst-beschämend oder verletzend.