Immer wieder immer noch AFGHANISTAN

Gerade scheint ja die Aufmerksamkeit für Afghanistan und seine Beziehungen zu Deutschland wieder in ins öffentliche Licht zu rücken. Schön wäre das, oder nicht schön, aber richtig. Ein kleiner Essay:

Michael Daxner                                                                                 Im August 2022

Afghanistan 2001-2021

Vor genau einem Jahr haben die Taliban ihre zweite Herrschaft aufgerichtet. Die deutsche Geschichte mit Afghanistan hat eine besondere Verantwortung und Haftung, die vergangenen 20 Jahre aktiver Beteiligung an Intervention und Wiederaufbau, an Demokratisierung und Sicherung aufzuarbeiten, was bislang fahrlässig vernachlässigt wurde. Die derzeitige Situation – Regierung seit 2021, Reaktionen auf Hungerkrise, verschärfte Diktatur der Taliban, geopolitische Einordnung des Konflikts im Schatten des Kriegs von Russland gegen die Ukraine, nach wie vor die Gefahr des Vergessens der deutschen Rolle in den 20 Jahren der Intervention – all das muss aus dem selbstgewählten Schattenbewusstsein herausgeholt werden. Persönliche und institutionelle Kritik und Selbstkritik sind immer noch besser als Verdrängung und Erschrecken, das Verdrängte doch wiederkommt (wie dieser Tage beim Ausschalten von Al Sawahiri).

Es ist hier eine gedrängte Zusammenfassung meiner Überlegungen, ohne Anspruch auf große Komplexität, aber auch ohne dauerndes Zitieren der Autoritäten, auf denen der Afghanistandiskurs anscheinend beruht – anscheinend, weil er mehr auf uns als auf die notleidenden Menschen in Afghanistan abzielt.

  • Beginnt die Geschichte für uns 1914…jedenfalls mit Amanullah 1892-1960: deutsch, französisch, türkisch orientiert,…oder mit 1968, als Afghanistan Durchlauferhitzer auf der Fahrt nach Indien war? Oder erst 2001, als der Kalte Krieg, die sowjetische Besatzung, das korrupte Mujaheddinregime, die Terrorherrschaft der Taliban etc. längst vergessen waren? Oder nie bewusst?
  • So geschichtsvergessen aber brachte sich Deutschland bei und nach der Konferenz von Bonn 2001 ein, und unsere Beteiligung an der Intervention war innenpolitisch den Menschenrechten zugewandt, außenpolitisch aber der Unterwerfung unter die USA und die NATO geschuldet.
  • Ich war für die Intervention gewesen. Ein Fazit war, dass eine richtige Politik von Anfang an durch Fehler in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Fehler der Amerikaner: Rache für 9/11 + Uneinigkeit über das Ziel: Gewinnung eines Partners des „Westens“ versus militärische Basis in der Region (vgl. dazu (Daxner 2017), neuerdings u.a. Dobbins (RAND)). Rumsfeld: no nation building!
  • Fehler der Deutschen: Beteiligung an der Intervention war nur scheinbar humanitär, gegenüber der Öffentlichkeit wurde Krieg und Besatzung verdeckt.
  • Wenn 9/11 Ursache und Anlass gewesen wäre, hätte man nach dem Tod von Osama bin Laden sofort abziehen können und müssen. Stattdessen der längste Krieg der USA, und – nach Korea und Vietnam, der dritte, der mit einer Niederlage endete
  • Dazu gibt es hinreichend viele und genau, selten wirklich kontroverse Analysen. Deren Konsequenzen haben es aber nicht in die Öffentlichkeit geschafft, und im subjektiv-betroffenen Segment werden sie oft sogar unter Verschluss gehalten.
  • Die Intervention hat in der Tat dem Land Fortschritte gebracht: Bildung und Gesundheit haben sich verbessert, v.a. sind die Rechte von Frauen, Minderheiten und die öffentlichen Freiheiten – v.a. gemessen an der Talibandiktatur vor 2001 und erneuten Talibanherrschaft nach 2021 – erheblich gestärkt worden, man kann von einer „neuen“ Generation sprechen. Negativ waren die Ambivalenz von westlichem Verfassungsanspruch und islamistischer Beharrung, Konstanz von vor-Taliban Eliten (vgl. Spanta 2018), zu geringe zivile Entwicklungsunterstützung. Irreversible Modernisierung, z.B.  durch vergrößertes Wegenetz (Aufbrechen von isolierten Lokalgesellschaften), Medien, IT. Nicht einholbare Modernisierung: Bevölkerung wächst durch Gesundheitsreformen: unkontrolliert, Kommunikation mit der Diaspora beendet Isolation auf einer anderen, diskursiven Ebene; halbkoloniale Entwicklungshilfe wird durch Remittenden teilweise überholt. Dominanz des Militärischen zerstört zivilen Aufbau.
  • Kritik dieser Modernisierung aus Deutscher Perspektive: die Regierung kommuniziert zu wenig mit Wissenschaft und Ethnologie; Die beteiligten Ressorts agieren von unkoordinierten und inkompatiblen Wissens- und Netzwerkgrundlagen; die Interessen deutscher Außenpolitik an Afghanistan und der Region wurden innenpolitisch nicht oder falsch vermittelt. Oft haben Bildung und Gesundheit bei den dauerhaft agierenden NGOS bessere Ergebnisse als staatliches Handeln und vielfach auch bessere Rückbindung an die Diaspora in den Heimatländern.
  • Nicht der Abzug 2014 war an sich falsch, er kam entweder sehr zu spät, oder aber er wurde zu früh angekündigt.
  • Die Verhandlungen mit den Taliban unter Khalilzadh für die USA unter Ausgrenzung der Regierung waren falsch, von Trump ausgenützt und von Biden schlecht fortgesetzt. Die deutsche Rolle in Doha und ihre Informationsressourcen sollten untersucht werden.
  • Deutschland spielt mehrfach keine Rolle:
  • Militärisch handlungsunfähig ohne die USA
  • Keine eigenen politischen Ziele, schon gar keine gesellschaftlich nachhaltigen (Scheinsicherheit des Aufgehobenseins im westlichen Bündnis…). Widersprüchliche Haltungen innerhalb der NATO (Türkei u.a.), der VN, der EU, werden innenpolitisch nicht hinreichend veröffentlicht oder gar vermittelt.
  • Keine Außenpolitik in der größeren Region (Iran, Russland, China, Nachbarländer)
  • Die USA sind gespalten über Pakistan, das aber ist der wichtigste Drehpunkt der regionalen Politik. Deutschland ist hier nur Vasall.
  •  
  • Flucht aus Afghanistan.
  • Darüber habe ich viel gearbeitet und geschrieben. Die Kritik am deutschen Verhalten ist ebenso nachvollziehbar, wie sie die Gesellschaft spaltet, während der Staat, d.h. vor allem die Regierung, hier gegen die menschen- und völkerrechtlichen Grundprinzipien agiert (Seehofer, Maier, Maas, Kramp-Karrenbauer, Dobrindt etc.). Der infame Satz, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe, wird zum Mantra gegen die AfD. Das ändert sich nach dem 24.2.2022 (Russlands Überfall auf die Ukraine) inhaltlich wenig, die Begründungsdiskurse variieren stärker. Die Analyse dieser Diskurse und ihre Rückführung in die Gegenwart der Politik ist bei Ukraine in vollem Gang (Kontrovers, aber zielgenau: (Link 2022); solches hätten wir ab 2001 regelmäßig gebraucht, statt der verspäteten und einseitigen Fortschrittsberichte aus dem AA, seit 2010).
  •  Die Ablehnung des Ortskräfte-Rettungsantrags von Grünen und Linken am 23.6.2021 durch CDU/CSU/SPD (Deutscher Bundestag – Antrag zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte abgelehnt) ist verheerend in ihren Auswirkungen und kostete sicherlich hunderten Menschen, die hätten gerettet werden können, das Leben. Diese wurden u.a. dem Wahlkampf geopfert. 
  • Wir müssen nicht nur die Geflüchteten aufnehmen, sondern auch dafür sorgen, dass die Diaspora demokratisch und stabil ein „Außenanker“ für die Menschen in Afghanistan wird. Die Taliban werden sicher nicht den Vorstellungen der Kriegsverlierer folgen, aber es gibt auch Bereiche, wo es kein „Zurück“ gibt. Umso schlimmer dort, wo das möglich und wahrscheinlich wird.
  • Die Kriegsverlierer, und dazu zählt Deutschland und teilweise die EU neben den USA, haben weder das Recht noch die Möglichkeit, die Bedingungen für künftige Kooperation zu diktieren. Zum Verhandeln gehört vielleicht nicht Demut, aber die Einsicht, wie schwach und zweitrangig unsere Position ist. Da sich bei den Taliban zunehmend der Hardliner Flügel (Haqqani etc.) durchsetzt, ist diese Bedingung besonders schwierig. Es muss mit diesen Gegnern dennoch eine Art der Anerkennung geben, die Leistungen (z.B. gegen Hunger, für Frauen, für Erziehung) für Geld und andere Unterstützung (z.B. gegen IS, soziale und wirtschaftliche Stabilisierung) tauschen lässt. Das ist noch lange keine Realpolitik.
  • In jedem Fall müssen wir die Diaspora bei uns unterstützen
  • Die Frauenorganisationen, den Dachverband afghanischer Organisationen, wissenschaftliche Kontakte usw. können wir niedrigschwellig, aber effektiv unterstützen
  • Keine, absolut keine Abschiebungen
  • Herstellung eines politischen Gedächtnisses für die deutsche(n) Rolle(n) in Afghanistan der letzten 20 und der letzten 100 Jahre: gegen die Geschichtsvergessenheit. Dazu zählt das Afghanistan Archiv, AfA, an dem ich arbeite, mit der Uni. Potsdam und anderen ExpertInnen; dazu werden auch die Materialien der Enquetekommission zählen. Es ist absolut notwendig, dass AA, BMI, BmVG ihre Akten öffnen, die Öffentlichkeit und wir ExpertInnen haben ein Recht auch das zu erfahren, was von Seiten der Exekutive nicht richtig gelaufen ist, und zwar nicht nur im geschönten Diskurs der Diskussionskompromisse.
  • Mich erreichen täglich Anfragen und Bitten, v.a. von in Deutschland lebenden Afghaninnen und Afghanen. Sie machen sich Sorgen um Familienmitglieder und Freunde in A. und wollen Hilfe und Information, um diese heraus, am besten nach Deutschland, zu bringen. Zwar versucht die Bundesregierung, ihr schmähliches Versagen von April bis Juli zu verschleiern hinter wohltönend moralisierenden Beschwörungen (Es war ein Missverständnis, aber jetzt arbeiten wir ja daran…), jedoch ist das auch nur oberflächlich und bürokratisch. Vor allem ist nicht wirklich klar, wer endgültig auf die Listen des AA kommt, die potenziell ausreiseberechtigte AfghanInnen gelistet haben, es gibt natürlich jetzt verspätete Bemühungen und manche Menschen werden tatsächlich gerettet, deshalb hat es wenig Sinn, über das Allgemeine hinaus jetzt zu kritisieren, das hat noch Zeit. Aber an wen man sich konkret und im Einzelfall wendet, bleibt genauerer und aufwändiger Recherche vorbehalten. Nur keine falschen Hoffnungen wecken…auch wenn es weh tut. Das hat sich mit der Regierung seit Herbst 2021 tatsächlich ein wenig zum Besseren gewendet, das sollen wir nicht nur anerkennen, auch unterstützen. Es geht aber noch zu langsam, und wie das Patenschaftsnetzwerk (als Beispiel) noch immer weiß: 10.000 Ortskräfte warten noch auf ihre Rettung (Vgl. betterplace.org vom 4.8.2022)
  • Ich habe mich aus der Individualbearbeitung mangels Kompetenzerhaltung und abnehmenden Beziehungen nach Afghanistan zurückgezogen und mache nur mehr AfA und Diaspora sowie politische Analysen. Das ist teilweise wirklich resigniert (ein Viertel meines Berufslebens habe ich Afghanistan gewidmet), teilweise aber pragmatisch.
  • Es gibt Netzwerke von ExpertInnen und erfahrenen Afghanistanaktiven; es gibt das unverzichtbare Afghanistan Analysts Network AAN, (https://www.afghanistan-analysts.org), das viele Wissens- und Analyselücken der Politik füllt, es gibt auch Forschungen, die mehr als nur im Innersten Bereich ausgewertet werden müssen, einige Beispiele:(Bühring 2017) (Seiffert and Hess 2014), und eine Unmenge weißer und grauer Literatur aus NGOS und Medien – Reuters Bericht aus Nuristan (Reuter 2022) ergänzt, was die Akteure des deutschen Rückzugs aus Afghanistan nicht wussten und wissen (Gebauer and Hammerstein 2018). Für Deutschland jedenfalls gilt auch, dass die strikte diskursive Trennung von Gesellschaft und Militär nicht stimmt, auch wenn sie von einigen angestrebt wurde und wird.

Deutschland und Österreich sind zur Zeit weit hinten in der Menschenrechtspolitik und der Flüchtlingsfrage, aus unterschiedlichen Gründen. Das wird aufgearbeitet werden müssen, aber jetzt hat die Rettung jedes einzelnen dieser Rettung bedürftigen Menschen Vorrang.

NACHSATZ: das ist nicht ansatzweise eine umfassende Analyse oder Zusammenfassung. Es sind vielmehr orientierende Stolpersteine für die eigene Beschäftigung mit einem Land, das droht vergessen zu werden, und einem Land, das Verdrängung auch der jüngsten Vergangenheit oft zur Politik macht.

Ich werde diese Seiten meinem Blog michaeldaxner.com und einigen Rundbriefen zum Anhang hinzufügen. Forschungen zur gegenwärtigen Entwicklung werde ich nicht machen, mir genügen die 20 Jahre.

  • Bühring, H. (2017). Rückkehrende aus dem Einsatz. F. d. Bundeswehr. Hamburg.
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  • Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS.
  •            
  • Gebauer, M. and K. v. Hammerstein (2018). „Plastikrosen in Zellophan.“ Der Spiegel 2018(7): 32-35.
  •            
  • Link, J. u. a. (2022). „für eine andere Zeitenwende.“ kultuRRevolution Sonderheft.
  •            
  • Reuter, C. (2022). „Reise ins Niemandsland.“ SPIEGEL(29/2022).
  •            
  • Seiffert, A. and J. Hess (2014). Afghanistanrückkehrer. Potsdam, ZMS.
  •            
  • Spanta, F. D. (2018). Neopatrimoniale Netzwerke in Afghanistan: Kulturelle und politi-sche Ordnungsvorstellungen der afghanischen Eliten OSI. Berlin, Free University. PhD.
  •            

                                                                                               michaeldaxner@yahoo.com

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