Gestern, am 4.11.2022, habe ich meine Mitgliedschaft im Hochschulrat der Philipps-Universität Marburg (PMU) beendet, früher als meine Amtszeit gelaufen wäre, aber nach 10 Jahren und über 50 Sitzungen. Damit wird eine Erneuerung des Hochschulrates erleichtert und ich muss mich nicht in die Medizin des Uniklinikums einarbeiten, was Angelegenheit des ebenfalls zurückgetretenen Vorsitzenden war. Was mich – neben den wirklichen Abschiedsgefühlen – beschäftigt hat, war der Abschied von der Hochschulpolitik an der Uni, an der ich mich 1973 erstmals auf eine Professur beworben hatte (die Stelle wurde kurz nach meiner Anhörung gestrichen, ich wurde kurz darauf nach Osnabrück berufen). Der Kreis schließt sich, und vieles, das vor 50 Jahren aktuell war, ist heute hochschulpolitisch noch nicht viel weitergekommen – Deutschland insgesamt verliert im Bereich der wissenschaftlichen Bildung und Ausbildung, auch in vielen Bereichen der Forschung. Nun ist Marburg nicht nur 600 Jahre alt, sondern eine sehr angenehme, studierendenfreundliche, soziale und politisch gut platzierte Universität in einer guten Stadt, es ist auch ein Ort der wissenschaftlichen Freundschaften geworden (Kosovo, Konfliktforschung, Ethnologie) und ich konnte meine eigenen Erfahrungen mit Universitätsleitung und -Politik gut vergleichen mit der Entwicklung 20 Jahre danach. Also kein trauriger, sondern ein pragmatischer Abschied, der zugleich einen biographischen Kreis schließt, der noch mehr persönliche Bezüge aus der Vergangenheit enthält. Nun ist das von einem Tag auf den andern zu Ende, die Erinnerungskultur beginnt und wird vielleicht bei einem Kolloquium oder einem Sommerfest aufgerufen, aber das Kapitel ist geschlossen.
Das hat eine persönliche Seite, aber auch eine politische. Wissenschaftspolitik und Hochschulpolitik führen in Deutschland ein Schattendasein, trotz enorm verwendeter und verschwendeter Geldmittel. Allzulange hat man auf eine konstruierte und teilweise erfolgreiche Tradition gebaut, und als wir um 1968 eine echte Reform versucht haben, ist diese an vielen, widersprüchlichen Spezifika der deutschen politischen Kultur und des Staatsüberhangs gegenüber der Wissenschaft gescheitert (Vgl. Michael Daxner: Die Wiederherstellung der Hochschule, Köln 1993, Böll). Heute wäre meine These, dass hier auch die gesellschaftliche Indifferenz und nicht nur eine abwegige Staatsverwaltung eine echte Autonomie und vor allem Verantwortung gegenüber den Studierenden behindert hatte, auch dass der Föderalismus die Ausbildung behindert hatte und die außeruniversitäre Forschung durch Bundespolitik begünstigte. Egal…ich hatte mich schon lange aus der europäischen Hochschulpolitik zurückgezogen, jetzt auch aus der deutschen.
Finis, das ist auch biographisch eine Wende, denn ab jetzt kann ich erzählen, und ab jetzt hat die Erzählung wenig Einfluss auf meine Praxis.
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Am Ende bleibt ein doch erinnerungswertes Rundumgemälde meiner Präsenz im Hochschulrat: eingeleitet und nach einigen Stunden beendet durch eine Bahnverbindung, deren summierte Verspätungen ein Seminar über ein Semester ermöglicht hätten; oft musste ich übernachten und das war gut, weil es mir ermöglichte, vor den Sitzungen durch die morgendliche Stadt zu streifen oder einfach mich weiter vorzubereiten, und abends konnte man Freunde und Kollegen treffen, die man sonst lange nicht sieht. Manchmal nach Wiesbaden, ins Ministerium, unter der jetzigen Ministerin besonders angenehm, grün bleibt grün, und so war auch das eine gute Zeit.
Das schreibe ich, weil es etwas abschließt, das nicht mit meinem Alter und meiner Lebenskurve zu tun hat, sondern mit zehn Jahren des lebendigen Lebens.
P.S. Ich glaube, ich hatte nie jemandem erzählt, dass ich am Abend nach meiner ersten Anhörung im Wirtshaus um meine Brieftasche erleichtert wurde, weil ich stundenlang auf den späten Nachtzug warten musste. Das hat mit der Uni nichts zu tun, und eigentlich mit mir auch nicht.