Drei gaunze Schüleng kosts aussi zun Grematorium…
So beginnt eines der Wiener Todeslieder. (Natürlich von Helmut Qualtinger – Marcia Funebre / Drei gaunze Schüleng (Drei ganze Schillinge) lyrics | AZ Lyrics.az). Nur die Straßenbahn zum Zentralfriedhof ist teurer geworden…
Keineswegs lustig oder ironisch gestimmt, versuche ich die geballten Erfahrungen der letzten Monate zu „entsubjektivieren“, d.h. es geht mir in der Überlegung nicht darum, wer konkret wann wie gestorben ist, beerdigt wurde, das beschäftigt mich zwar mehr als vieles andere, aber es bietet auch einen Anlass, über „mein“ Thema nachzudenken und zu schreiben. Mein Thema, lebensbestimmend seit ich vielleicht sechzehn war, und bis heute sollte man dieses Wort LEBENSbestimmend lesen, es geht ums Leben, nicht um den Tod.
Zwei Eckpunkte. In der Bibliothek des philosophischen Onkels gab es von Hans Nossack „Das Testament des Lucius Eurinus“, eine Reflexion über den Tod, das Christentum, und die persönliche Haltung, kein besonderer Autor, kein besonderes Buch, aber es hat sich eingeprägt, seit über 50 Jahren. Und der 11.2.2023, also gestern, als eine Potsdamer Bekannte, Politikerin und Performatorin aus Anlass ihres neuen Berufs als Trauerrednerin eine Proberede hielt, bei einem von ihr gestalteten Kulturevent: „Auf das Leben“ – im Programmheft heißt sie uns willkommen und sagt: „Es folgt eine Trauerrede ohne Trauerfall und anschließend lade ich dich ein, auf das Leben zu tanzen oder den Abend bei Getränken und Gesprächen zu verbringen“ (www.jennypoeller.com)
Der eine bindet den Tod an die Religion, und – der Inhalt ist bei mir jedenfalls völlig vergessen, nur dass ich das Buch inhaliert habe, weiß ich noch. Das gestrige Erlebnis war ein weiterer Anstoß, über dieses Thema zu reflektieren und etwas zu sagen, Jenny Poeller animiert die Erinnerung als Zugang zur Trauer.
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Über den TOD gibt es unzählige Texte, Lieder, Bilder, ohne TOD gäbs wahrscheinlich keine Kunst, und seine Konstruktion gehört zur Evolution wie zur Zivilisation. Über das STERBEN hingegen gibt es zwar auch viel, aber verglichen mit dem Tod fast nichts. Was man erinnert, auch nicht zufällig, „Die Weise von Liebe und Tod“ (Von Rilke 1899 in einer Nacht geschrieben und 1912 auf dem Markt), oder „Romeo und Julia“. Aber um diese bekannten Todesanrufungen geht es mir weniger als darum, dass der Todesdiskurs den Weg der einzelnen Menschen von ihrer Geburt bis zu ihrem Sterben zudeckt.
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Der von mir geschätzte Charles Baudelaire schreibt einmal „Es ist der Tod, der tröstet und belebt, / in dem wir einzig ziel und hoffnung sehn, …“ (1821). Der weniger geschätzte Stefan George hat das herausgebracht: George, Stefan: Baudelaire. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 13/14, Berlin 1930, S. 181-182. Es heißt „Der Tod der Armen“ und sagt nichts darüber aus, wie die armen Menschen wirklich sterben, sondern in welchen konstruierten Kontext sie eingebettet sind. Und darum geht’s mir in diesen Tagen, wo sich meine Erinnerungen mit der Wirklichkeit von Sterbefällen, Abschieden, Trauerereignissen (nicht „Feiern“, dazu auch noch später) in ungewohnt heftiger Art auftürmen.
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Manchmal möchte ich sprachkritisch eingreifen, wenn Todestag das Sterbedatum markieren. Es gibt so viel Sterben, wie es Menschen gibt, vermehrt um die Teilhabe anderer Menschen an diesem einen Akt des Übergangs vom Leben ins NICHT. Der Begriff ist sehr schwierig, weil die Meisten vom „Nichts“ sprechen, das aber den Gegenpol des „Etwas“ hat, und das wäre ja drüben oder als Weiterbestehen des Gestorbenen als Molekül im Pazifik o.ä. Nein, mit dem Sterben eines Menschen geht dieser Mensch ins Nicht, und wir bleiben zurück, wir LEBENDEN: Das wäre und ist für das Moment, das „tröstet und belebt“, weil wir konkret den oder die Gestorbenen überleben. „Recht haben die Überlebenden“, sagt Jean Améry, der Immerhin KZ und Tod überlebt hatte. Damit meint er nicht allein sich, WIR überleben.
Jetzt kreuzen sich zwei Wege: Einerseits. Meine Gedanken und Gefühle bei denen, die gerade verstorben oder begraben sind, bei denen, kurz vor dem Sterben sind, und bei der momentanen etwas verblassenden Sprachmasse des Todes. Andererseits. Mehr als andere, ebenso schreckliche gegenwärtige Kriege, trägt der Krieg der Russen gegen die Ukraine eben zu dieser Situation des belebten Sterbens bei wie das Erbeben in der Türkei und Syrien. Belebtes Sterben heißt, dass es uns, wenn wir helfen, spenden, mitwirken wollen, um jeden einzelnen konkreten, wirklichen Menschen gehen muss. Und dabei können und dürfen die Ursachen, Anlässe und Umstände seines und ihres Todes nicht aus den Augen verloren werden, gerade wenn es uns um das Überleben dieses konkreten Menschen, dieser wirklichen Menschen geht.
Die Kreuzung verhindert, dass sich das alles einseitig in Sentimentalität oder dem Selbstmitleid verliert, das durch Trauer genährt wird. Wir leben, das bedeutet auch, dass wir erinnern können, dass wir denen zur Seite stehen (müssen, sollen, dürfen), die unerinnert auf den Schlachtfeldern geopfert werden oder unter den Erdstößen verloren gehen. Dass zur Humanität auch gehört, die Erinnerung zu bewahren oder gar sie herzustellen.
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Wenn das zum Krieg, zum Erdbeben, zum Hunger, zur Verwüstung gehört, dann geht es, so paradox es klingt, nicht gleich um den massenhaften Tod, der als Konstruktion der Mächtigen Lebenden immer vom Sterben des einzelnen Menschen absehen muss, um eine Botschaft der Lebenden an die Lebenden zu senden. Dazu passen Kunst und Literatur, damit muss man keine Probleme haben. Das ist die „Geschichte des Todes“, wie das Ariès richtig nannte. Das ist auch Teil der nach wie vor gepflegten Rituale, Totenmessen, Trauerreden.
Einschub. Zufällig beginnt heute in manchen Regionen der Karneval. Carne vale. Kurz vor der Fastenzeit bemüht sich das Leben, alles Mögliche in sich hereinzuholen, bevor es jenseitsorientierten Buße oder auch nur Schubumkehr des Lebendigen anvertraut wird, auch jenseits der religiösen Dogmen oder Religion schlechthin. Kann man, nicht nur „ich“, kann man das mit der Erinnerung und präsenten Trauer, vor jeder Erinnerung, in Einklang bringen? Die Frage ist nicht abstrakt, auch nicht philosophisch gestellt. Worin zeigt sich denn die trauernde Einstellung, die ja die Erinnerung aufbaut und in bestimmter Weise sortiert: jetzt kannst du nicht mehr einfach auswählen, woran du dich bei den Verstorbenen erinnern willst. Jetzt gilt das Gedächtnis der Überlebenden, das Subjekt lebt eben nicht weiter, sie oder sind im NICHT. Sind nicht.
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Der Krieg, die Kriege, das Erdbeben, erlauben es, ein wenig Abstand zum Kitsch des Todesdiskurses zu gewinnen. Der massenhafte Verlust der Welt an Leben ist eben nicht vom Tod durch natürliche Willkür oder durch den Tod fürs Vaterland oder gar zur Ehre eines Gottes zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Vielleicht kann man sich ein wenig besser, d.h. konkreter, in die Trauer der Überlebenden einfühlen, die auch, wie wir, leben, überleben. Das wäre schon ein Gewinn für den Rest des Lebens von jedem und jeder von uns.
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Nachsatz: Jenny Poeller schreibt im Programmheft: „So ein Abend lässt sich, wie das Leben selbst, nicht allein denken, gestalten, und erleben“. Wer das Leben nicht mehr hat, kann nicht mehr fragen, warum, unter welchen Umständen. Wir Überlebenden müssen das fragen, müssen es wenigstens fragen lernen, und sei es beim Abschied.