Lechts, Rinks, Mittelweg

Die deutsche Aufgeregtheit hat Gründe und ihre Wurzeln. Verdrängung und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, wirkliche Probleme für die Gesellschaft in praktische Politik, mehr noch: ins Bewusstsein zu übernehmen, gehören zu diesen Gründen. Es wird zwar ausführlich, institutionell und personalisiert, über die Fehler der Vergangenheit räsoniert, offen gesprochen, politische Korrektheit konstruiert, da tut sich in Deutschland seit Jahrzehnten vieles, manche betrachten dies sogar als vorbildlich, man sagt, das deutsche Volk habe aus der Vergangenheit gelernt. Aber, das ist bitter, der Überhang an Diskurspolitik hat wenig Entsprechung im Bewusstsein und in der Praxis eines großen Teils der Bevölkerung.

In vielen anderen Ländern, in unserer Umgebung, werden die gleichen Probleme anders, weniger aufgeregt, diskutiert. CAVEAT: in keiner Gesellschaft werden Klimawandel, soziale Spaltung, Flüchtlingsprobleme, … (nicht) stärker verdrängt als bei uns und (nicht) weniger aktiv behandelt als bei uns, aber seltsam anders, cool, nicht kalt. Vielleicht nicht in „keiner“, sondern in vielen, nicht so intensiv, nicht so aufgeregt.

Wir wollen so gerne vorne sein: bei den Lektionen, die wir aus dem Weltkrieg, aus der Nazizeit, aus der bleiernen Zeit gelernt haben. Aus den vielen Begründungen eine verstörende: Unser Bildungssystem ist zunehmend asozial und dysfunktional, und die Schuld liegt nicht vorrangig am Lehrpersonal. Die Brüchigkeit der gesellschaftlichen Bildung ist scheinbar ein Widerspruch zum so intensiv als vorbildlich angesehenen Schul- und Hochschulsystem, wir waren doch vorn, seit Humboldt, seit…ja, waren wir das wirklich, während wir auf die schlechten Schulen und Unis der anderen hinabgesehen haben? CAVEAT: es gab tatsächlich viel erfolgreiches im deutschen Bildungssystem. Aber irgendetwas kann nicht stimmen, wenn es darum geht, das Wissen und eine bestimmte Haltung dem Bildungsbegriff einzuschreiben, einem unübersetzbaren Wort, das schützt uns…

Mit diesen Gedanken bin ich nicht allein. Mich treibt etwas anderes um: dass diese induzierte Aufgeregtheit auch in Bezug auf einen Politikwandel der letzten Jahrzehnte auf eine defekte Bildung von Bewusstsein und gesellschaftlicher Sensibilität zurückgeht. Nach den reformerischen „sozialdemokratischen“ Jahrzehnten scheint es jetzt eine globale, europäische, auch deutsche Pendelbewegung nach rechts zu geben, die besondere sprachliche und emotionale Aufgeregtheiten mit einer weiteren verschwiemelten politischen Bewertung und Gegenpraxis verbinden.

In Österreich gibt es eine teilweise Nazipartei, die FPÖ, die auch manchmal mit anderen Parteien koaliert, wobei es in der christdemokratischen ÖVP einen austrofaschistischen Flügel nach wie vor gibt. Macht das die demokratische Mehrheit in Österreich toleranter oder weniger abgrenzend gegenüber den Faschisten? Eher nicht, aber die Unterscheidung zwischen den alltäglichen gesellschaftlichen Verrichtungen und den prinzipiellen Differenzen, bei denen es ums „Ganze“ geht, ist in der Praxis der Individuen und Gruppen stärker.

In Deutschland vermeidet man die großen Vergleiche – was wissenschaftlich falsch und psychologisch folgenreich ist: Die Rechten von der AfD und ihren Verbündeten sind keine Nazis oder Faschisten, die Putinanhänger gehören nicht in die Gefolgschaft der Stalinisten, die Aufgeregtheit kommt auch daher, dass sich niemand ohne Widerstand den Brennpunkten auf der Rechts-Links-Achse nähern darf, und dass der Faschismus der Mitte ebenso aus dem Bewusstsein abgedrängt wird wie die Annäherung der Extreme auf beiden Seiten. Diese Achse ist falsch, wenn sie je richtig war. Man soll zwar nicht mit der AfD und ihren Verzweigungen zusammenarbeiten, man kann sich von Wagenknecht und den russophilen Stalinisten nicht genug distanzieren, aber die Begründungen sind merkwürdig blass.

Man kann das analytisch sehr genau begründen. Aber schon vordergründig kann man feststellen, dass, dass die Aufgeregtheit einen Anlass in der Angst vor den wahrhaftigen Begründungen liegt. Meloni, Orban, … sie alle sind in mehr als einem einem Netzwerk, an dem wir Deutschen auch beteiligt sind, das schwer als eindeutig zu bezeichnen, geschweige denn praktisch zu kritisieren ist. Aber sie sind trotz Netzwerkbeteiligung nicht „bei uns“. Sie gefährden die Demokratie, bei der wir Partner sind und ihnen gegenüber verpflichtet, wie sie uns gegenüber, EU, NATO, UN etc., aber natürlich auch wirtschaftlich, und die Ökonomie ist ja längst von der Politik getrennt.

Dafür ist unser Lieblingsverb in der täglichen Aufgeregtheit Abgrenzung, und die wird politisch korrekt begründet.

Allmählich fällt das nicht nur Intellektuellen, Kritikern und Künstlern auf, sondern findet Widerstand in den Alltagsdiskursen. Aber da schließt sich ein Kreis: es muss mehr für die Bildung, die Herausbildung einer kritischen Wahrnehmung und Beurteilung geben, u.a. dessen, was an Faschismus noch immer und schon wieder lebt, unter welchem Namen es sich gerade verbirgt. Das hat mit Bildung, Aufklärung und auch Kritik der beiden zu tun, und mit dem Kampf gegen die Scheinliberalität der Zerlegung unserer Gesellschaft in lauter individuelle Konsumenten, deren Bedürfnissen wir unsere Gesetze und Regeln gefälligst unterwerfen sollten.

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