Unsicherheit tut Not

Gerade tagen die Innenminister wieder. Jetzt soll die Schleierfahndung ausgeweitet werden; jede Art von Kommunikation soll besser von Staats wegen ausgespäht werden; Kindern sollen vom Verfassungsschutz überwacht werden; und natürlich: Deportationen in den Tod („Abschiebungen“) werden wieder forciert. Wortführer sind die Angehörigen der bayrischen Hetzmeute, Hermann und Mayer an der Spitze, und natürlich de Maizière, der nicht genug haben kann an der Ordnung, die die Loyalität der Staatsbürger zerstören kann.

Für all dieser Vorschläge, wie bei früheren Sicherheitsgesetzen, gibt es auch – auch! – gute Gründe. Allerdings sind diese Gründe nicht wirklich tragfähig, wenn man von den möglichen „Fällen“ absieht. Natürlich gibt es 12-Jährige, die an einem Anschlag sich beteiligen können – einen, zwei? Natürlich sind alle sozialen Medien auch Flugbahnen verbotener Kommunikation, sowie die guten alten Briefe, Emails und das Geflüster am richtigen Ort. Natürlich werden wir bedroht: wenn alle Autokonzerne Software manipulieren können, warum sollen das andere Gefährder oder gar Terroristen nicht können.

Mein Argument ist also nicht, dass es die Gefahren, die Hermann und andere beschwören nicht gibt. Mein Argument ist, dass es weniger riskant ist, mit diesen Gefahren, also etwas grösserer Unsicherheit zu leben, als uns dem autoritären Druck zur Aufgabe unserer Würde und Freiheiten weiter zu beugen.

Ja, der Staat muss für unsere Sicherheit Sorge tragen, das ist Teil des Vertrags. Wir müssen Steuern zahlen und uns an die Gesetze halten. Nein, der Staat ist nicht frei in der Festlegung des Verhältnisses unserer unveräusserlichen Freiheiten und seiner Sicherheitsmassnahmen. Wir können die Behauptung, wieviel Anschläge die jeweils verschärften Sicherheitsgesetze und-massnahmen verhindert haben, nicht überprüfen, oft sind es augenscheinlich nur legitimierende Behauptungen. Gerade die letzten Anschläge zeigen, dass man a) die Täter ohnedies im Visier hatte, b) sie weder kontrollieren noch einhegen konnte, und c) dass ein neuer Betonpoller nur hässlich ist, aber nicht schützt, weil es genügend andere Plätze gibt, wo wir überfahren werden können.

Wir sollen auch nicht den Gefahren einfach ins Gesicht sehen und fatalistisch in Passivität abgleiten. Nein, wir brauchen schon Polizei, auch Geheimdienste und einen Sicherheitsapparat. Aber dieser Sicherheitsapparat muss der sozialen Zivilisierung untergeordnet werden und darf nicht am Rad der Eskalation von Angriffs- und Abwehrtechniken mitdrehen. Mit anderen Worten: es geht nicht um die Verlagerung von immer mehr sozialen Dienstleistungen auf den Überwachungs- und Sicherheitsapparat, sondern um die Stärkung, ständige Erneuerung und Inbesitznahme dieser Dienstleistungen.

Gefahrenabwehr ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Risikominderung ebenfalls. Da gibt es eine Reihe von Massnahmen, die auf der Hand liegen: warum soll man nur die Reichsbürger entwaffnen? Warum soll überhaupt ein normaler Zivilist eine Schusswaffe kaufen dürfen (ja, ich weiss, die Jägerei und das Scheibenschiessen müssen ausgenommen werden, aber sonst?). Warum sollen Waffen von der Industrie gefertigt werden, die nicht den anerkannten Instrumenten von staatlichen Sicherheitsorganen zuzuordnen sind? (Ja, ich weiss, die lieben Arbeitsplätze). Warum soll flächendeckend überwacht werden, wenn es tausende Menschen nicht gibt, die die Videobilder auswerten können (sarkastisch schlage ich vor, intelligente Neumigranten für solche Tätigkeiten auszubilden und auch gleich Bahnhöfe und andere Verkehrspunkte durch ständige Präsenz sicherer zu machen…sozusagen die innenpolitischen Spargelstecher. Aber im Ernst: nach einer Tat helfen viele dieser Aufnahmen bei der Strafverfolgung und im Prozess, aber was haben sie bisher verhindert?).

Ich plädiere für die Unsicherheit als Element des freien Lebens, ohne dass ich deshalb die Risiken der gewalttätigen Attacken – Terroristen und andere Verbrecher zusammengenommen – verkenne. Wenn man diese Gefährder aller Grade nicht in die Gewaltspirale hineinhetzt, nimmt man ihnen schon den Propagandaeffekt, dass es kein staatliches Hindernis gibt, das sie nicht überwinden können. Es gibt in unserem System zwei Dinge, die die Gewalttäter fürchten müssen: Prävention und eine unabhängige Justiz.

Und die Prävention beginnt mit den sozialen öffentlichen Gütern, sie beginnt im Kindergarten und der Schule, sie beginnt in der kritischen Öffentlichkeit und geht jedenfalls so weit, dass nicht in Gemeinschaften unterschlüpfen darf, wer die Gesellschaft gefährdet. Das würden die ethisch besser befestigten Innenminister wahrscheinlich unterschreiben. Aber dann sollen sie auch zulassen, dass eine gewisse, und nie genau definierbare Ungeschütztheit und Unsicherheit zu unserer menschlichen Ausstattung, zur Condition humana gehört.

Das heisst nicht: nichts tun. Je mehr Citoyen, je mehr Bürger*in, desto mehr Gegengewicht zu den Gefahren. Die Regierung muss, ich wiederhole mich, Risiken mindern, aber nicht zu Lasten der Freiheiten, für die die genannten Gefahren wirklich bedrohlich sind.

Nachsatz:

Das sehen andere auch so, ich bin da gar nicht allein. Aber ich häufe in meinen Arbeitsunterlagen immer mehr Informationen und Beispiele auf, die mir zeigen was not tut: Einige davon hier exemplarisch:

  • Einer der bedeutendsten Stadtforscher unserer Tage hat einmal formuliert: Dopplet so grosse und halb so teure Wohnungen halbieren das Verbrechen. Analogien erbeten.
  • Den Resozialisierungsgedanken kann man nur umsetzen, wenn man den Strafvollzug verändert. Das gilt im übrigen auch für Migrant*innen, die straffällig sind (Abschiebung erhöht das Risiko, dass sie sich rächen, und dann nicht die Innenminister treffen). Sperrt sie hier ein und helft ihnen.
  • Der überwachte Bürger lügt. Auch gegenüber dem Staat. Wir sind befugt, den öffentlichen Raum deliberativ zu besetzen; der Staat ist nicht befugt, ihn einzuengen. Wenn der freie Bürger lügt, kann man übrigens Sanktionen verfügen….so einfach laisser faire sind die Verpflichtungen aus der Gesetzestreue nun wieder gar nicht.

Dann wieder denke ich: lass die Innenminister beschliessen, was sie wollen. Beim nächsten Anschlag werden sie sich wieder treffen. Gesellschaft funktioniert anders.

 

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