Afghanische Frauen in Deutschland, am 8. Mai

Ich war zu diesem Tag von Social Impact Leipzig, im Rahmen des Projekts Start Hope @ Home, zu einem Input eingeladen gewesen. Den Kontakt hatte ich ein Jahr zuvor bei einer Diaspora Veranstaltung der GIZ mit Sultana Daliri herstellen können, sie ist an der Organisation in Leipzig beteiligt.

Es geht um einen Diskurs der Rückkehr, manchmal auch Heimkehr, der das Gegenteil der Deportationen und erpressten Rückführungen ist. Wer nach Afghanistan geht, sollte dort eine Zukunft als möglich, als wahrscheinlich erachten. Familie allein ist kein Grund heimzukehren, wenn diese selbst zukunftslos lebt.Patriotismus ist jedenfalls zur Zeit ein schlechtes Motiv. Unzufriedenheit in Deutschland ist oft ein Motiv, dürfte aber die Lebenswelt in Afghanistan für die Frauen nicht verbessern. Klarheit über die Gründe hat sich das Projekt Start Hope @ Home zum Ziel gesetzt, seine Beratung hat einige errfolgreiche „Fälle“ bewirkt, und das ist gut so. Massenhafte Start-up Migration und eine zusätzliche wirtschaftliche Dynamik wird das Programm nicht bewirken, aber es kann auf die Diaspora positiv einwirken.

Das ist der Rahmen für meinen Text, es waren mehr als 30 afghanische Frauen, einige Männer von dort und etliche Personen von hier anwesend, und es wurd gut diskutiert. Kein Frauentag der Sprechblasen.

 

Eine Zukunft für afghanische Frauen[1]

Leipzig 8. März 2019

Vorgetragen von einem Mann? Ich bitte um Entschuldigung, aber ich habe die Einladung gern angenommen. Am Frauentag soll es eine gute, in die Zukunft weisende Diskussion geben.  Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe afghanische Frauen!

Wann werden Sie wieder in Afghanistan sein, zurückgekehrt, in Ihre Heimat, zu Ihrer Familie, in das Land, das Sie kennen und lieben? Oder werden Sie für immer hier in Deutschland bleiben, sich immer weniger fremd fühlen, vielleicht einmal nach Afghanistan auf Besuch fahren und sich die Veränderungen im Land anschauen, aber sofort wieder zurückkommen, nach Deutschland, und sagen: Heimat ist hier? Oder Sie sagen: Heimat ist hier und dort. Wenn ich zurückkehre ist es Brain Gain für Afghanistan, aber Brain Drain für Deutschland, wenn ich von Afghanistan weggehe, ist es umgekehrt.

Wenn Sie diese Fragen beantworten, sind Sie schon im Konflikt: denn es gibt auf diese Fragen und Optionen keine eindeutige Antwort. Lassen Sie sich bitte deshalb darauf ein, dass wir heute für einen Augenblick nicht über diese Antworten sprechen, sondern über die Zukunft der Menschen in Afghanistan, und über die Zukunft der Frauen in dieser Gesellschaft, und was diese Zukunft für uns in Deutschland bedeutet.

In der offiziellen Politik ist Afghanistan fast vergessen; gäbe es die unseligen Abschiebungen des Innenministeriums nicht, wäre es ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Nur in der Entwicklungszusammenarbeit gibt es noch einige aktive Beziehungen, wovon ja Social Impact und Start Hope @ Home Zeugnis geben, aber auch da geht es nicht um zahlenmäßig umfangreiche Rückführung oder eine Auflösung der Diaspora. Warum Afghanistan keine große Rolle spielt, zeigt einmal mehr, wie Deutschland im zentralasiatischen Kontext zweitrangig ist und auch keine besonders zukunftshaltige politische Vision für die Region hat, und für die eigene Rolle dort. Auch in den Gesprächen zwischen den USA und den Taleban ist Deutschland nicht eingebunden, übrigens die afghanische Regierung auch nicht.

Hat Afghanistan überhaupt eine Zukunft, die wir uns wünschen können? Ich denke, die Chancen stehen nicht gut, das Land ist unsicher wie selten zuvor, die Errungenschaften an Menschenrechten, Freiheiten und Wohlstand, die in den letzten 18 Jahren gemacht wurden, drohen Stück für Stück wieder zu verschwinden; das Land ist dabei, seinen Anspruch auf eine demokratische Republik im Konzert von demokratischen Partnerländern aufzugeben. Was eine Gesellschaft gut macht, wird von denen, die das Land beherrschen, oft gegen ungleich verteilten Reichtum und einen Fetisch eingetauscht. Der Fetisch heißt Stabilität oder Sicherheit, und Sicherheit regiert das Denken genauso gut wie Geld. Es fehlt an Arbeitsplätzen, Entwicklungsmöglichkeiten, Zukunftsplanung. Das ist eine Seite der Wirklichkeit.

Die andere Seite ist ebenso wichtig und wirklich: Es hat viele Fortschritte, Verbesserungen und Perspektiven gegeben. Kultur und Wirtschaft können sich besser entfalten als früher, Meinungen und Meinungsaustausch sind intensiver. Viele, vor allem jüngere Menschen, haben Gewalt und die Konflikte satt. Sie wollen frei entscheiden können, wie sie leben wollen und was sie dazu tun können, um diese Wünsche zu verwirklichen. Sie wollen sich ihre Lebenspartner, ihre Tätigkeiten, ihr soziales und kulturelles Umfeld weitgehend selbst aussuchen können. Dabei nehmen sie natürlich Rücksicht auf Traditionen, Familie, Religion – aber Rücksicht nehmen heißt nicht, auf die Selbstbestimmung und Entscheidung verzichten.

Nun wissen wir, und Sie alle hier im Raum wissen es, wie stark Tradition, Familie und Religion die afghanische Lebenswelt bestimmen. In allen drei Bereichen sind Frauen noch nicht so frei, wie sie sein müssen, um die Entscheidungen zu treffen und vor allem umzusetzen, sie zu leben. Und dazu reicht es nicht, den Wechsel in eine freiere Gesellschaft einfach zu wollen…

Ganz konkret: Sie wollen ein Start-Up, ein Geschäft oder einen Betrieb in Afghanistan aufmachen. Welche Probleme müssen Sie überwinden, die Männer nicht haben? Sie wollen eine Partnerin oder einen Partner heiraten, der Ihrer Familie nicht gefällt oder nicht Muslim(a) ist: wie können Sie sich durchsetzen? Sie wollen studieren und etwas für ihre künftige Beschäftigung lernen:  wie kommen Sie an Geld, Wohnung, Unterstützung und wo sollen Sie studieren, wenn nicht in Afghanistan? Wie wollen Sie all das in einem Umfeld gestalten, das durch Unsicherheit, Gewalt, eine teilweise unwirksame Gesetzgebung und staatliche Verwaltung gekennzeichnet ist, und wo auch noch Patronage, Korruption und lokale Machtauseinandersetzungen hohe Hürden bauen?

Wenn Sie diese Probleme nicht erkannt hätten, wären Sie nicht hier in Deutschland. Sie wissen mehr über diese Probleme als viele Frauen in Afghanistan. Sie leben hier in der Diaspora, in einer ziemlich großen afghanischen Gemeinschaft, die sich aus mehreren sozialen Gruppen zusammensetzt. Wir haben dazu seit Jahren geforscht, und einige der Ergebnisse sind bereits zugänglich. Darüber sind ja auch Frau Sultana Daliri und ich ins Gespräch gekommen. Eine Sache fällt wirklich auf: dass die afghanische Diaspora in Deutschland nicht bereit ist, sich so zu organisieren, dass ihre Interessenvertretung mit einer Stimme spricht. Warum das so ist, können wir diskutieren. Aber welches sind Ihre Interessen, und da frage ich heute konkret Ihre Interessen als Frauen, als berufstätige Frauen, als Asylbewerberinnen, als afghanische Mütter in Deutschland? Und mit wem teilen Sie diese Interessen, und mit wem kommunizieren darüber, hier in Deutschland oder auch über die Medien in Afghanistan?

Solche Diskussionen sind wichtig, unabhängig davon, ob Sie nach Afghanistan zurückkehren wollen, dauerhaft oder nur auf Zeit, ob Sie von hier auf die Lebensverhältnisse in Afghanistan einwirken wollen, oder ob Sie hier bleiben wollen, integriert, und eben beweisen, dass man zugleich Frau, Afghanin und Deutsche sein kann und will.

Den ersten Schritt haben Sie längst gemacht. Sonst wären Sie nicht hier. Daher wissen Sie, wie wichtig es ist sich zu informieren. Offizielles Wissen ist nicht immer hilfreich, aber oft notwendig: Botschaft, Konsulate, Nachrichtendienste, Informationen aus Afghanistan, über Familienmitglieder, Freunde und Geschäftspartner. Darüber muss ich Ihnen gar nichts erzählen, und wie man Information erhält und austauscht, wissen Sie wahrscheinlich besser als ich. Wenn Sie die Frauenvereine kontaktieren, AIWA und AFV, wenn sie Afghanistan Analysts Network (AAN) regelmäßig zu Rate ziehen, wenn Sie über Ihr Netzwerk hier kommunizieren, dann wissen Sie viel, oft viel mehr als die Politik.

Der zweite Schritt ist wichtig: Das Wissen zu verarbeiten, kritisch zu bewerten und auszuwerten: dazu müssen wir uns alle ständig weiterbilden, lernen hört nie auf und Kritik auch nicht. Kritik heißt, sich auch selbst befragen, was an Werten, Traditionen oder schlichten Gewohnheiten so nicht mehr tragbar ist, aber einfach hingenommen wird, weil es immer so war…Tom Koenigs, der Chef von UNAMA 2005 bis 2007, hat auf solche Fragen immer wieder gesagt: Bildung, Bildung, Bildung – und das heißt nicht nur für Sie lebenslanges Lernen hier in Deutschland, sondern politische Einmischung: es muss viel mehr für  Schulen und Hochschulen getan werden, viel mehr Entwicklungsgeld und Sachverstand muss da hin gehen, viel mehr Forschung muss betrieben werden, damit dieses lebenslange Lernen in Afghanistan zum Rückgrat der neuen Gesellschaft werden kann. (Statt Bildung sagt ein Teil der Politik immer Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit, und verstehet nicht, dass man damit keine Stabilität erreichen kann). Dazu ist es auch wichtig, dass hier mit den Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, und sicher gibt es viele Fälle, in denen Sie Lehrerin und Studentin zugleich sein können, hier wie dort.

Dazu ist es sicher im dritten Schritt nötig, sich zu organisieren, und das scheint ja hier gut zu funktionieren. Und trotzdem gibt es hier eine Frage: organisieren Sie sich als Geschäftspersonen, als afghanische und/oder deutsche Staatsbürgerinnen, oder vor allem als Frauen? Diese Frage stelle ich als Mann, und aus der Beobachtung von 50 Jahren Feminismus. Ich halte meine Vorschläge zur Antwort zurück und mache einen politischen Umweg, der allerdings heute sehr wichtig ist.

Als Deutschland, nach der Petersberg-Konferenz 2001, beschloss, massiv zur Intervention von ISAF und OEF beizutragen, mussten nicht nur Parlament und Politik davon überzeugt werden, sondern auch die Öffentlichkeit. Einer der wichtigsten Aspekte eines politischen wie militärischen Engagements war es, die Situation der Frauen in Afghanistan zu verbessern, sozusagen die Menschenrechtsfrage vor allem über die Dimension der Frauenertüchtigung (Empowerment) und Befreiung aus unwürdigen Situationen zu spielen, weil ja die Frauen unter den Taleban besonders schlecht behandelt wurden. Als Motivation mag man das akzeptieren, es wurde aber nicht genau gefragt, ob denn die Situation der Frauen unter den anderen gesellschaftlichen Kräften so viel besser war als unter den Taleban; ob die Stadt-Land-Bewegung nicht für die Frauen ebenso prekär sein würde wie der starke Einfluss religiöser Machthaber, die um ihre Position bangten (Schauen Sie nur auf die Gesetzgebung zum schiitischen Geschlechter-Verhältnis und die Position der Religionsführer zur Sexualität)[2]. Andererseits können wir feststellen, dass nicht nur eine restriktive und diskriminierende Politik herrscht, sondern auch vielfältige, wenn auch oft individuelle und personalisierte Aktionen von Frauen zu ihrer Befreiung erfolgt sind, bisweilen nicht öffentlich und spektakulär: ich habe das selbst an der Universität erlebt und in den internationalen Büros, wo über Arbeit und Austausch mit anderen Kulturen auch neue Einsichten und Empowerment stattgefunden hat.  Auch hat Sexualaufklärung viel mit Frauenemanzipation zu tun. Schon 2004 hatte ich erlebt, wie ein sehr guter deutscher Arzt Probleme gemeistert hat, damit er Untersuchungen und Behandlungen an schwerkranken Frauen im Genitalbereich durchführen konnte, ohne dass Männer ihm dabei in den Arm fielen. Vieles davon ist nach wie vor höchst ambivalent. NGOs haben sich im Bereich der Sexualaufklärung verdient gemacht, sie müssen sich natürlich besonders vor Angriffen und Anfeindungen schützen. Auch ist es wichtig, der Religion ebenso Grenzen aufzuzeigen wie der Tradition, vor allem, wenn beides auch dazu dient, die männlichen Positionen unangemessen zu befestigen. Das ist schwierig, ich weiß, und mit Risiken behaftet. Aber auch hier kann frau sich Verbündete schaffen.

Handeln Sie vorrangig als Frauen, und erst in zweiter Linie als Afghaninnen, Mütter, Deutsche, Geschäftsfrauen?

Vielleicht ergeben sich aus den Antworten auf die vielen Fragen auch Ausblicke darauf, wie wir hier in Deutschland und in regelmäßiger Kommunikation mit Afghanistan etwas für die Situation der Frauen in Afghanistan und damit auch hier verbessern können.

 

 

 

[1] Impuls von Michael Daxner bei der Netzwerkveranstaltung von Social Impact Lab Leipzig im Rahmen des Programms Start Hope@ Home am 8.3.2019. à http://www.starthope.eu

[2] Z.B.  https://de.search.yahoo.com/search?fr=mcasa&type=E111DE1268G91208&p=frauengesetzgebung+Afghanistan: https://www.emma.de/artikel/afghanistan-ohne-frauenrechte-kein-frieden-316719 ; http://www.spiegel.de/politik/ausland/frauen-in-afghanistan-gesetz-regelt-sexualverkehr-mit-ehemaennern-a-617118.html ; https://de.qantara.de/inhalt/frauenrechte-in-afghanistan-anlass-zur-hoffnung (alle 6.3.2019): ich habe absichtlich ältere Verweise genommen, es ist ja eine lange Zeit seit dem Sturz der Taleban 2001.

Literatur: Michael Daxner: A Society of Intervention. Oldenburg 2017, Kapitel 4. (auch open access oops.bis/uni-oldenburg.de ; Michael Daxner, Silvia Nicola, Frangis Spanta: Afghanische Diaspora in Deutschland. im Auftrag des AA, 2018; Michael Daxner, Silvia Nicola: Prepare-Protect-Promote. Mapping and Report on the Afghan Diaspora in Germany. GIZ 2018

Ambi- oder die Vertagung

Ambi…ambivalent, ja, manche Dinge kann man so oder so sehen und in die Diskurse einbringen. Das ist eine Frage der Wahrnehmung oder Reflexion. Ambig, selten gebraucht, Ambiguität, schon häufiger, im Englischen normal, aber oft mit ambivalent verwechselt: eine Sache hat mehr als eine  Wahrheit (nicht fake gegen real, sondern real gegen real, je nach System  und Kontext).

Dies ist keine Übung in Blog-Didaktik.

An vielen Beispielen kann man beide Begriffe testen. In meinem politischen Umfeld etwa die Ambiguität der antiwestlichen Neigung und der Realität in nichtwestlichen Diktaturen, Russland China z.B.

Die sich hier, in Deutschland, gerne links und friedlich und fortschrittlich sehen, können Trump gut kritisieren, einfach weil sie in den meisten Punkten recht haben; dann wenden sie das Völkerrecht gegen Trump an, wenn es um Maduro oder Guaido geht, und übersehen, dass der von Feinden des Völkerrechts, in diesem Fall  Russland und China unter Hinweis auf das Völkerrecht gestützt wird. Das heißt nicht, dass Guaido im Recht ist, aber Maduro ist es sicher nicht, und wenn dann Guaidos Unterstützer sagen, dass der Hunger der Venezolaner die stärksten Begründungen für Politik abgibt, dann ist das ebenso richtig, wie eine amerikanische Intervention falsch wäre.

Was tun? In vielen politischen Zirkeln wird das zwar so gesehen, wie ich es schreibe, aber eine klare Position zu finden ist a) nicht einfach und b) verprellt es wahrscheinlich mehr aus der eigenen Constituency (oder Glasglocke, sozialen Gruppe, Klientel) als dass man sich gegen Beifall von der Falschen Seite wappnen müsste.

Mir braucht niemand zu sagen, dass Trump ein Verbrecher hart an der Grenze der Zurechnungsfähigkeit ist (wäre er völlig schuldunfähig: Vorsicht, dann landet er im Irrenhaus oder bleibt unbelangt). Aber mir braucht auch niemand zu sagen, dass in diesem Borderline-Hirn sich oft Einfälle formulieren, die auf anderem Weg auch andere Analysen erreichen. Wenn man jetzt Maduro aus Abneigung gegen Trump „stützt“, gar noch völkerrechtlich, dann ist das die Bevorzugung eines kleinen Übels gegen das große, ein ganzes Volk im reichsten Land der Region verhungern zu lassen aus Gründen von Machterhalt, Klientelismus und Unfähigkeit.

Vor 50 Jahren +/- 10 war das so, dass man durchaus völkerrechtlich prekäre Guerilla-Aktionen gegen Gewaltregime je nach Inklination gepriesen und unterstützt oder aber verdammt hat, rechts-links, schwarz-weiß, sozialistisch-proamerikanisch etc. unterteilt. Was kulturell zu untersuchen wäre, ist die Reduktiion der politischen Urteilskraft auf bipolare Globalität, während wir uns wenigstens mit den meisten konservativen und kritischen Politikwissenschaften einig sind, dass diese Bipolarität endgültig vorbei ist, und die Versuche von Putin und Trump, neue Duo—Hegemonien aufzubauen, eher wie eine Farce wirken, nimmt man China aber dazu, gibt es kein antiwestliches Rationale mehr…

Dazu wird in den politischen Programmen zu diskutieren sein. Mir geht’s hier um Ambiguität[1] und die Unfähigkeit, die Systemgrenzen innerhalb der eine Wahrheit gilt oder eben nicht gilt, zu verstehen. Für schnelle LeserInnen: es geht hier weder um Relativismus noch um einen Rückzug in ultra-konstruktivistische Systemtheorie, sondern um eine Abwägung, welcher Wahrheit man in der politischen Praxis den Vorzug geben soll und muss, wenn  es um fundamentale Menschenrechte oder Überlebenschancen geht. Siehe Venezuela heute.

*

Das Heute ist mein Stichwort auch. Die historische Analyse wird es geben müssen, woher die jetzige Misere kommt, wer sie verschuldet hat, wer sie geduldet hat, wer sie gefördert hat, und wie. Das kann zu Prozessen führen, zu starken oder schwachen Parteinahmen.  Historisierung ist eine wichtige Methode; sie kann auch auf Gedächtnisse nicht verzichten – konkreten Fall: wie kam es zum Chavismus, was war davor, welche Alternativen gab es? , und immer der Blick auf die Machtkonstellationen innerhalb definierter sozialer Räume. Aber was ist JETZT? Ist ja keine triviale Frage, die sich erst angesichts von Leichenbergen einfacher beantwortet.

Die Analogie meiner Frage: die Leichen der im Mittelmeer Ertrunkenen, die Leichen im Südsudan, die Leichen im Ostkongo, nur um ein paar aktuelle Massenmorde und Genozide anzusprechen. Der Engel  der Geschichte schaut nicht nach vorne[2].

„Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Aber der Sturm treibt ihn in die Zukunft.

Und wenn wir nicht ausweichen können, da wir nicht ausweichen können – wie bei den Aschermittwoch-Diarrhöen  der Parteien – müssen wir zunächst uns mit Wirklichkeiten aussöhnen, die wir nicht teilen können, die auch keine Kompromisse erlauben. Das ist kein Widerspruch. Es bedeutet nur, dass wir uns unangenehme, ungelegene Wirklichkeiten nicht weniger anerkennen dürfen als positive – unsere Haltung kann sich jeweils verändern, und der Stil der Diskurse natürlich auch. Aber es geht nicht, Trump anzuklagen (was richtig ist) und den Gaskrieg der Russen und Syrer zu vertagen, das Unrechtsregime in Peking zu vertagen, den Nationalismus von Indien und Pakistan zu vertagen, die Praxis Seehofers und Orbans zu vertagen…Ver-Tagen ist eigentlich ein gutes Wort: es besagt deutlich, dass man auf ein Erwachen im hellen Tageslicht erwartet, das die gegenwärtige Umnachtung beendet…und wenn‘s nicht hell wird?

Also was tun? z.B. dafür sorgen, dass Essen nach Venezuela kommt und nicht Millionen flüchten müssen. Z.B. dafür sorgen, dass die dummdreiste Debatte um sichere Herkunftsländer in Deutschland beendet wird. Z.B. dafür sorgen, dass das Exportverbot für Kampfwaffen nach Saudiarabien auch gewürdigt wird, selbst wenn es fragil bleibt und nicht lange hält usw. Das ist Jetzt

[1] Florian Kühn ist zu danken, der diesen Begriff und seine  Auswirkungen seit Jahren beispielhaft entfaltet. Seit 2014 immer in der Literatur: Ambi…ambivalent, ja, manche Dinge kann man so oder so sehen und in die Diskurse einbringen. Das ist eine Frage der Wahrnehmung oder Reflexion. Ambig, selten gebraucht, Ambiguität, schon häufiger, im Englischen normal, aber oft mit ambivalent verwechselt: eine Sache hat mehr als eine  Wahrheit (nicht fake gegen real, sondern real gegen real, je nach System  und Kontext).

[2] Ausführlich die Entstehung der wichtigen Neunten These, die Benjamin kurz vor seinem Tod dem Bild von Paul Klee mit gab bei Antonia Grunenberg, Götterdämmerung, Freiburg 2018: Herder, v.a. im letzten Kapitel, LitBezug FN 134. Am besten natürlich selbst lesen.  Kurzfassung von Astrid Nettling im DLF macht vielleicht auch neugierig: https://www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom.2540.de.html?dram:article_id=345151 (10.2.2016).

Wer ist hier der Volksfeind?

Mein Blog wird in den nächsten Tagen einige Rezensionen bringen, was sonst selten ist. Aber im Zuge einer Art Inventur dessen, was anliegt, wenn die Hauptbeschäftigung mit einiger Anstrengung zur Seite gedrängt wird: das Leben ist meist in einer anderen Dimension als dort, wo man gerade heran muss. Theater, Musik, Literatur – naja, das Übliche am agilen Bildungsbürger, und zugleich die Gewissheit, dass die Kritik dieser Bürgerlichkeit verhindert, dass sie zu eng, zu selbstzufrieden werde. Politische Lateralität hat den Vorteil, dass die zentralen Prioritäten besser in den Blick genommen und damit vielleicht besser politisch bearbeitet werden können. Genug der Vorrede: gestern, 3. März.

Gerade nach dem Volksfeind[1] heimgekommen, Ostermeyers Meisterwerk in der Schaubühne. Seit 2012 spielen sie das in dieser Fassung, ist um die ganze Welt gegangen. Man glaubt es kaum. Muss sehr genau analysiert werden, was auch Spaß und Nachdenken und Spannung  gemacht hat, denn da sind Sprengfallen drin, und man meint das Stück schon gut zu kennen. Stockmann zeigt einem imaginär aufgeklärten Massenpublikum a) dass ein Umweltaktivist weder gut noch sympathisch sein muss (ich denke so wenig, wie ein zu Unrecht im Knast Sitzender deshalb schon besser oder netter sein muss, weil er gelitten hat, b) dass die Verstrickungen der besitzenden Klasse und ihrer Abhängigen und deren Habitusaffinitäten und Brüche nicht aufgehen in klaren Gleichungen…wissen wir doch, nur in der Schaubühne so viel mehr besser und origineller als im HOT (Hans Otto Theater Potsdam)  vor vier Jahren. Dann aber bricht das Stück ins Publikum, Stockmann hält eine politische Rede gegen den Individualismus, Liberalismus, und wer nicht aufpasst, freut sich, klatscht und – erstarrt: irgendwann will er „die Schädlinge ausrotten“, irgendwann ist die Presse eben die Lügenpresse, und es verwundert nicht, dass Hitler bei Ibsen unzitierte Anleihen genommen hatte (Programmheft ist gut und wichtig, schade, dass das HOT diese Information zugunsten eines billigen Blättchens abgeschafft hat). Die Rede Stockmanns fasst viel zusammen, das damals wie heute gegen „die da oben“ gesagt werden kann und. Was den Gegnern im Stück nur insofern nützt, als sie ihre niedere Gesinnung nun anhübschen können, mit der Plausibilität, dass die Kritik eines Einzelnen ja doch der Mehrheit schaden kann…anscheinend siegt der Common sense. Und einige Leute im Publikum diskutieren mit, dass es zum schämen ist, bei anderen waren die Wortmeldungen wohl von der Regie gesetzt, jedenfalls zerfallen die Fronten. Ich denke an Antonia Grunenbergs Walter Benjamin (Götterdämmerung, Herder 2019) und die Kritik am Liberalismus und daran, dass zwei, die das Gleiche sagen, noch lange nicht das Selbe sagen…Schön auch der Schäferhund auf der Bühne. Und ich denke, dass viele, die sich nicht geäußert hatten, wohl an eine auffällige Analogie gedacht hatten: Stockmann hat ein Anliegen: Gift im Wasser macht krank. Solange das nicht kausal und evident ist, halten die Heilbadbetreiber, und alle, die davon leben, ihn für den Volksfeind, weil ja die Mehrheitsdemokratie auch auf dem Spiel steht, bei beiden Kontrahenten. Nun ersetzen wir Stockmann mit dem so genannten Arzt und Lungenfachmann Köhler, dessen falsche Berechnungen für den so genannten Minister Scheuer ein Anlass sind, die Autoindustrie (Bad Untertürkheim, Bad Zuffenhausen, Bad Wolfsburg etc.) zu verteidigen (Arbeitsplätze, Steuern, halt die geglaubte „Mehrheit“), und die Kritiker an der Feinstaubpolitik und den Dieselfahrverboten zu Volksfeinden zu erklären. Die Dialektik ist, dass Stockmann offenbar nicht gelogen hat, Scheuer und Köhler und seine 100 Lungenarzt-Scharlatane aber offenbar schon. Ähnlich wie bei Joachim Meyerhoffs Melle-Solostück in der Volksbühne: so muss Theater sein.

 

[1] Henrik Ibsen: Der Volksfeind. https://www.schaubuehne.de/de/produktionen/ein-volksfeind.html

Finis terrae XXVIII: Am Rande des Kriegs

In der beruhigenden Umgebung der deutschen Innenpolitik – man streitet, aber wer auch immer grad obsiegt, bewegt doch nur wenig – muss man nicht auf die so genannte Welt schauen. Natürlich können wir nicht ruhig sein, keineswegs beruhigt, wenn wir an das Klima denken, an die wirtschaftliche Abbruchkante, die Trump und Xi uns näherbringen, den Abbau von Demokratie, den Putin, Trump, und einige fünfzig von so genannten Völkern gestützte Schurken uns näherbringen, die fatigue de democracie, die wir uns selbst näherbringen, diese Müdigkeit an scheinbarer und scheinheiliger Politik. Manche Beobachter meinen, dass das alles für Deutschland auch zutrifft, sei das ein Zeichen für (endlich! Endlich erreichte) „Normalität“.

Die Ereignisse einer Vorkriegszeit sind dann normal, wenn sie eine Struktur aufweisen, die auf den sich abzeichnenden Krieg bzw. Kriegszustand hinweisen. (Deshalb zählen manche den Vorkrieg schon zum Krieg). Gegenläufige Entwicklungen sind Ausnahmen oder Placebos oder die Ankündigung des „Nun muss sich alles, alles wenden“ (Uhland). Nur reichen natürlich einzelne Anzeichen der Wende nicht, wie der Frühling beim Dichter. Das „Muss“ ist bedrohlich, wenn es nicht sagt, womit man den Krieg verhindert – oder die Klimakatastrophe in absehbarer Zeit.

Mit einer gewissen Befriedigung sehen Reaktionäre Deutschland endlich normal werden: wir missachten die Lehren aus der Vergangenheit zugunsten einer Angleichung an andere Staaten, die schon längst mit ihr abgeschlossen haben (konkret mit dem Kolonialismus, dem Überfall auf die Ukraine, der Kündigung von Verträgen, dem Rechtsbruch…). Es fällt auf, dass die mit Gewalt ausgeübten Normalisierungen fast allesamt in die Sphäre formaler Institutionen fallen. Man entledigt sich der regelsetzenden Instanzen, die das eigene Handeln einschränken bzw. in bestimmten Bahnen halten. Anders und einfach gesagt: wer sagt, das darf doch nicht wahr sein, wird belehrt: es kann aber wahr werden.

Es gibt keine Vorsorgepläne für den Vorkrieg. Ja, Vorräte erneuern und ergänzen, Trinkwasser und Teigwaren, den Verbandkasten ergänzen, wichtige Telefonnummern etc…schadet nie, hat aber damit nichts zu tun. Vorkrieg und Krieg sind weder Naturkatastrophen noch vorstellbar. Seltsam – Krieg soll nicht vorstellbar sein? Wo es doch Überfüllen an Literatur, Bildern, Musik, und geteilten Erinnerungen gibt. Zur Inhomogenitätvon Kampfhandlungen und individuellen Schicksalen gehört auch, dass man dauernd ein „Nebenan“ hat, Nebenan wird gekämpft, nebenan stirbt jemand, nebenan brennts, grade hier nicht mehr noch nicht schon wieder. Und schon entstehen die Erzählungen vom Verschontwerden, vom Aufschub des Sterbens, nicht gleich Überleben.

Vorkrieg: die eindrücklichen, erschütternden Passagen der Biographie von Walter Benjamin in Antonia Grunenbergs „Götterdämmerung“ (Herder 2018) zeigen, wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und davor die Stimmungen und Voraussichten und „Ahnungen“ und die Abwehrmechanismen im Exil in einander greifen. Man lese das Kapitel „Flüchtling sein“ (1938-1939) und unmittelbar darauf die Titelgeschichte des SPIEGEL 10/2019 (Titelblatt: Abschiebung. Ein deutsches Desaster. Titel: Deutsche Drecksarbeit). Brauchbar recherchiert, beschämend für die deutsche Republik im Frieden. Aber ich vergleiche doch, den früheren Vorkrieg als langdauernde, latente Vorbereitung zwischen dem ersten „Großen“ Krieg und dem zweiten, der mehr als ein Weltkrieg werden sollte; und unserem Vorkrieg, der beinahe schon so ist wie im Krieg (dazu in den früheren Finais terrae Blogs und in den Blogs zu Deportationen). Ich habs nicht erfunden, aber natürlich gibt es nachprüfbare Parallelen. Und Differenzen. Im Spiegel (S. 19) sieht man ein Foto des AustronaziKickl, des Italofaschisten Salvini und des deutschen „christ-sozialen“ Deportationsministers Seehofer. Das ist eine der Dreifaltigkeiten, die von den ordnungssüchtigen Populisten verehrt oder von den Demokraten verachtet werden, aber zu wenig gefürchtet und schon gar nicht bekämpft. Sie bereiten den Krieg nicht vor, sie sind Vorboten, Anzeichen wie eine jähe Bö vor dem Sturm. Aber die Boten sind auch Brandstifter, die sich noch als Biedermänner tarnen können…

Der Vorkrieg bietet viele Nischen, Plattformen, Schrebergärten, Hinterzimmer, in denen man sich wahlweise sicher fühlen kann oder auch vor der Realität verstecken, sie quasi leugnen. Ein scheinbar dazu nicht gehöriges Beispiel, das aber deutlich wie selten auch Vorkrieg signalisiert. Auch in Deutschland gehen Schüler*innen und Student*innen während der Unterrichtszeit am Freitag auf die Straße: fridaysforfuture.de. Gegen die Passivität der Politiker, gegen die Träge prä-mortale Alterstumpfheit der Erwachsenen, und gegen die Regeln, die auch noch bei der Klimakatstrophe Bahnsteigkarten verlangen – sagt doch die unglaublich gebildete und mit Geistesgaben überaus gesegnete Ministerin Karliczek, die Schüler sollten am Nachmittag (in der Freizeit“) demonstrieren, aber nicht in der Unterrichtszeit (http://taz.de/Karliczek-gegen-Fridays-for-future-Streiks/!5577348/). Sogar Merkel und Barley wissen das besser. Aber darum geht’s nicht: selbst die Symbolgewalt des Regelverstoßes muss zu Konsequenzen führen, sonst braucht es keiner Politik mehr.

Der Krieg wird nicht wegen der Klimakatastrophe stattfinden, er findet in ihr statt.

*

Denkt denn niemand daran, dass entwürdigte, misshandelte, sozial ausgegrenzte, internierte, untergetauchte, Flüchtlinge im Krieg tatsächlich GEFÄHRDER sein können, fragt sich nur für wen? Und für welche Sache.

Wir – Deutschland, die EU, die Großmächte, die Waffenexporteure – rüsten mittlerweile so intensiv auf, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, bei den ausbrechenden Kampfhandlungen von „eigenen“ Waffen getroffen und getötet zu werden. Das ist gut für die vaterländische Gesinnung und die Aktienkurse der Waffenschmieden.

(Ausflug. In den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus, V. Akt, 25. Szene[1], wird gegen Ende des Ersten Kriegs in einem Café aufgeregt unter Schiebern, Wucherern, Adabeis diskutiert. Einer wähnt „Friedensfühler“, während die anderen Verdienstmöglichkeiten abklären. Der alte Schieber bekommt einen Zusammenbruch „…Laßts mich -ich bin e Pechvogel – ich hab Schkoda“ … und der Zustand steigert sich. „achab Schkoda“. Er hat Skoda-Aktien, und wenn Frieden kommt, dann wird aus der größten und einträglichsten Waffenschmiede und ihren Aktionären nichts…die Verbindung zur jetzigen Koalitionsdebatte um Exporte von Waffen nach Saudi-Arabien ist rein zufällig).

Und auf Menschen kann man weiterhin schießen und schießen lassen, wenn man sie in der Haft nicht klein kriegt. Die schmelzenden Gletscher und den Staub in der Lunge und das Plastik im Lachs bekommt man so nicht weg – das sagen einem die streikenden Schulkinder, und die besorgten Eltern und Großeltern nicken bekümmert: besser die Kinder schauen den Alten beim Sterben zu als umgekehrt. Oder?

[1] Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, Teil II. dtv: München 1964, 169-172

Jüdischer Einspruch VIII: kein Zwang, bitte.

Es gibt eine JÜDISCHE STUDIERENDENUNION DEUTSCHLAND (JSUD).

Man kann da einiges nachlesen: https://www.facebook.com/JSUDeutschland/posts/1048560308630558

Es gibt eine Gruppe  „orthodoxer“ Rabbiner und jüdischer Aktivisten, die eine Policy „Pluralistisches Judentum innerhalb der JSUD“ attackieren und kritisieren. Das ist ein wenig satirisch, wenn der Text unter https://juedische-zukunft.de/ zu lesen ist. Unterzeichnet u.a. von Vorständen der orthodoxen Rabbinerkonferenz und einer Reihe von Rabbinern, Einzelpersonen und Verbänden.

Für manche gibt es große Freude: die jüdische Kontroverse in Deutschland lebt, das ist ja ein Zeichen von Normalität: zum Beispiel  Chaims Sicht: www.sprachkasse.de/blog/2019/02/22/endlich-mal-wieder-eine-richtungsdebatte

Gut, dass ich das am Karnevalswochenende der deutschen Tradition in die Hand bekomme. Da schreiben die Verfasser des „Offenen Briefs an die JSUD“ unter anderem:

„…Durch die erklärte Liberalisierung der Zielgruppe der JSUD können und werden nachhaltige Probleme entstehen, die die junge jüdische Gemeinschaft daran hindern werden, jüdische Traditionen und Werte weiterhin zu bewahren. Unsere Religion legt aus, dass die Partnerschaft ausschließlich mit einem halachisch jüdischen Ehepartner möglich ist. Alle anderen Verbindungen sind verboten. Außerdem stellt die Assimilation, neben dem Antisemitismus, momentan die größte Gefahr der jüdischen Zukunft in Deutschland dar.“ UndWir fordern von der nächsten JSUD Vollversammlung, die Gefahren der Assimilation durch eine Liberalisierung zu erkennen, zu benennen und sich entsprechend zur Wahrung einer jüdischen Zukunft in Deutschland zu positionieren.“

Zum einen geht es um die Erfordernis der jüdischen Mutter…darauf gehe ich als ehem. Professor für jüdische Studien gar nicht ein, die Kontroverse ist zu absurd, um ernst genommen zu werden.

Zum andern aber geht es um die dogmatische Auslegung der Religion…Lesen Sie bitte die beiden obigen Absätze genau, nicht ironisch, nicht mit dem Kopfschütteln über die Ewig-Gestrigen. Der Text des offenen Briefs ist blasphemisch, unmenschlich und geeignet, die Gemeinden weiter zu entleeren. „Unsere Religion legt aus…“. Jüdische Menschen, die sich nicht „zu uns“ bekennen, sind wohl keine jüdischen Menschen. Ich denke: Gesegnet sind alle Partnerschaften, die gut und lebbar sind. Sie kommen vor der Auslegung. „Alle anderen Verbindungen sind verboten“. Da wollen wir einmal nicht in das Leben der Unterzeichner hineinschauen, sondern nur sagen: Wer wagt es, Partnerschaften zu „verbieten“?

Und dann der Satz der Sätze: „Außerdem stellt die Assimilation, neben dem Antisemitismus, momentan die größte Gefahr der jüdischen Zukunft in Deutschland dar“. Das Reformjudentum kommt vorwiegend aus Deutschland, die jüdische Aufklärung, auch der Fortschritt der jüdischen Religionswissenschaft…ja, man kann sich über die jüdische Heterodoxie nicht nur freuen, man muss sie als stärksten Widerstand gegen Antisemitismus und Antijudaismus auch anerkennen. Assimilation stellt eine Gefahr für die jüdische Zukunft dar, wohlwollend gesagt: soll sein, es geht nicht um die jüdische Zukunft, es geht immer um die menschliche Zukunft. Denkt euch den Satz ohne die Parenthese „neben dem Antisemitismus“…wo könnte der so stehen?

Mit diesem “Offenen Brief“ wird nicht nur die JSUD beleidigt. Alle jüdischen Menschen, die sich der Intention des jüdischen Lebens verpflichtet fühlen, werden mit einer inquisitorischen und ausgrenzenden Polemik an den Pranger gestellt. Wer offen antiliberal ist, wer so offen gegen die Pluralität agitiert, steht nicht in der jüdischen, sondern leider auch in der deutschen Tradition…

Weniger wohlwollend:  so ein Judentum können jüdische Menschen doch nicht wollen. Nach dem Schrecken der Shoah und vieler Antisemitismen davor und danach muss doch endlich deutlich sein, dass Religion eine gesellschaftliche Ordnungsmacht ist, die die Freiheit der Menschen zu verwirklichen hat, die Freiheit, die ein Preis ist und ihren Preis hat. Und wenn die jüdische Religion dazu nicht in der Lage ist, hat sie schon abgedankt, noch bevor sie ihre letzten Anhänger verliert.

Damit könnte es sein Bewenden haben, den Ernst kann man diese orthodoxen Ultras ja nicht nehmen (aber sie nehmen sich arg wichtig -jüdische Zukunft in Deutschland, wow). Aber ich fühle mich angegriffen, wenn à Gschaftlhuber im Namen meines Stammes, meiner jüdischen Lebenswelt da Beziehungen verbieten, wenn sie definieren, wer sich mit wem paaren darf und wer nicht. Noch schlimmer können es die katholischen Zölibatäre mit ihrer Heuchelei nicht treiben. Ich lasse es nicht dabei bewenden.

  • Wenn sich die Briefschreiber auf die Halacha berufen, also auf eine traditionelle, alte Konstruktion, keine Offenbarung, dann vergessen sie, wie kontrovers und uneinheitlich jede Zeile, jedes Wort des à Tenach ausgelegt wurde und wird; dann verstehen sie nicht den Unterschied zwischen Glauben und Religion, zwischen unverfügbarer, freier Überzeugung von Menschen und Vereinsmitgliedschaft, zwischen religiöser und säkularer Stammesmitgliedschaft, Dogma und Wirklichkeit; und weil sie ihn nicht verstehen, ebnen sie ihn mit einem Verbot ein.
  • Das aber dürfen gerade orthodoxe jüdische Menschen nicht, denn wie sollen sie sich herausnehmen, Verbote zu formulieren, wenn sie sich dabei nicht auf ihren Gott berufen können. Die Halacha konstruiert das Kollektiv „Judentum“, und innerhalb desselben sind ja die Individuen nicht die Gemeinschaft der „Gläubigen“, sondern je für sich (man möchte sagen: für sich verantwortlich). Aber die Halacha sprengt geradezu die Einheitlichkeit der Auslegung und zwar durch die Praxis, sie ist kein Katechismus (und die Partnerschaft, nebenbei, ihr Rabbiner, ist kein Sakrament… von wegen „verboten“). (Und für die säkularen, nicht religiösen jüdischen Menschen bedeutet das nicht automatisch, dass sie nicht oder etwas „anderes“ glauben, sondern dass auch ihre Praxis sich an dem messen lässt, was die Halacha an Freiheiten jedem Menschen zugesteht). Im Übrigen kann auch ein Nicht-Gläubiger diese Praxis üben.
  • Die Briefschreiber können gegen liberales Judentum, gegen LGBTY, gegen Regelbrüche schimpfen, sie können – wenn sie das können – Gegenargumente ausarbeiten, sie können auch die Gemeindestrukturen ändern, einschließen, ausschließen etc. Das ist ihr Recht, und wieweit sie damit kommen, wird man sehen, denn natürlich haben sie das Recht auf Opposition damit auch aktiviert. Aber was sie nicht dürfen: jüdische Menschen mit Drohungen an den Rand der Gesellschaft drängen. Es gibt keine jüdische Gesellschaft in Deutschland, es gibt eine Gesellschaft in Deutschland mit jüdischen Menschen als einem Teil. Darum spreche ich nie von Deutschen und Juden. Denn Juden sind eine Konstruktion, die selbst völlig willkürlich durch eine machtbestimmte Normierung geschaffen werden. Wer ist Jude? An der Antwort sind alle gescheitert, manche zu spät, mit vielen Opfern, andere in erheblicher Unerheblichkeit. Die Arbeit an der Antwort, für manche nur à Pilpul, für andere eine lebenslange Auseinandersetzung in vielen Diskursen, das bestimmt die Plätze für jüdische Menschen in der Gesellschaft, ihre wechselnden  Beziehungen und ihre Lebenswelt.
  • Ich sehe im offenen Brief der Rabbiner einen Angriff. Auf die Grundrechte, auch auf die Religionsfreiheit, aber vor allem auf die unerlaubte Ausdehnung einer bestimmten Auslegung religiöser Normen über eine Gruppe von Menschen, die durch die Religionsgemeinschaft gar nicht erfasst wird. Das ist der erste Schritt zu genau dem Zang, dem sich jüdische Menschen seit tausenden von Jahren zu entziehen suchten. Teilwiese mit erfoolg, und shon gar hier, in unserem Land.

Nachsatz: Ich kenne – bewusst oder unbewusst – niemanden, der der JSUD  angehört und bin mit dieser nicht in Kontakt. Ich kenne auch einige aus der orthodoxen Rabbinerkonferenz, aber eher Kontrovers oder bei Begegnungen, an denen auch andere Rabbiner und RabbinerInnen teilnehmen.  Ich arbeite erkennbar als jüdischer Mensch, wenn es notwendig ist (zB. bei der Studienförderung). Aber ich halte die autoritäre Anmaßung der Briefschreiber für einen Angriff auf meine Lebenswelt in Deutschland.

  • Ich gebe hier weder religiöse noch wissenschaftliche Literaturhinweise, die meinen Standpunkt stützen; ich muss mich im Widerstand nicht auf Autoritäten stützen, die ich gleichwohl, wenn nötig anerkenne. Wenn es eine jüdische Zukunft in Deutschland gibt, dann auch im Widerstand gegen die Briefschreiber.
  • Der Pfeil kann Leser*innen zu ein Paar Fachausdrücken führen. Ich schreibe ja nicht nur für jüdische Menschen (obwohl auch ein bayrisch-österreichisches Fremdwort dabei ist).