Retten können, trotz Wut und Resignation

Man möchte gerne den noch amtierenden Innenminister und seine Prätorianer abführen, im Büßergewand der Aussätzigen an die polnisch-weißrussische Grenze führen, dort anketten und frieren lassen. Man, d.h. nicht alle, aber ich auch. Man tut es nicht, ich beteilige mich auch nicht, weil Menschenrechtsverletzungen und Zynismus, beide, keine Revanche dulden; man würde sich auf das Niveau des Untam[1] begeben, und damit mitschuldig werden.

Der Konflikt zwischen der EU und Polen, aber auch zwischen der EU und Ungarn, Slowenien, und anderen Mitgliedsländern ist so viel größer als Seehofers Angebot an die Flüchtlingsschinder, und doch ist seine Sicht der Dinge „realistisch“ – das Schinden, bis hin zur Tötung, geschieht wirklich, und ob und wie Putin und Lukashenko schuld sind, oder Putin an Lukashenko, oder wer die Menschen schlechter behandelt, ist wie ein Vergleich von KZ und Gulag – auf der Ebene der Wortklauberei sinnlos und vor allem Zeitvergeudung.

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Als BürgerInnen dieses Staates sind wir allerdings auch an diesem Minister schuldig, und an seinen Untaten. Wir haften, ohne dass wir direkt Verantwortung dafür tragen, was an der deutsch-polnischen und polnisch-belarussischen Grenze geschieht, und an den anderen Außengrenzen der EU, und und und.

Mich regt das doppelt auf. Zum einen, weil es die Schwächen und Versäumnisse, aber auch Fahrlässigkeiten von EU-Verfassung, Kommission und den Mechanismen zeigt – schlimm genug, aber reparierbar. Selbst in der Flüchtlingsfrage, gekoppelt an die Menschenrechte, KANN man etwas machen. Dazu eine Rückerinnerung: als die ehemaligen Sowjetuntertanen aus dem Griff des Poststalinismus befreit wurden, haben wir uns alle gefreut, vor allem, dass und wie sie in die EU gedrängt hatten. Solange Geld floss, und der Kapitalismus neoliberaler Art keine zu schnellen Wunden schlug, hat man alles mit Geld zugedeckt. Es war aber vorherzusehen, dass Befreiung nicht automatisch Demokratie und Republik bedeutet, befreit kann man leichter sein als frei. Ich wurde damals von Liberalen eher verspottet, als ich voraussagte, dass mit der Aufnahme dieser postsowjetischen Länder nicht automatisch ein Zuwachs an Demokratie und guter Politik erfolgen würde, sondern dass eher der Anteil der schlechten Politik des Westens auf die neuen Mitglieder übertragen würde – wenigstens für den Übergang (den ich viel zu kurz prognostiziert hatte, mein Fehler). Die Angst vor Selbstbestimmung und Aufklärung ist in weiten Teilen der Regierungen und einem Teil – keineswegs immer der Mehrheit – der Bevölkerung geradezu mit Händen zu greifen, in Polen kleriko-faschistisch, in Ungarn direkt faschistisch, in vielen anderen Ländern der EU populistisch bis hin zur korrupten Buberlpolitik in Österreich.

Das hindert an wirklicher Politik, ob Klima, ob Flüchtlingsrettung, ob Armutsbekämpfung…

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Der Trigger dieser leicht aggressiven Betrachtung von Seehofers Politik ist ein anderer, nämlich die Frage, wenn wir noch aus Afghanistan retten können, und wenn wir Deutschland heißt, wie koordinieren wir eine langfristige Hilfspolitik der angekommenen Asyl- und Bleibeberechtigten und ggf. ihrer Familien hier im Land und nicht im Stacheldraht unserer Außengrenzen. Das sind ein paar Hundert, noch nicht Tausende, aber es werden sicher mehr. Und hilft das wohlfeile Gehtze gegen Ausländer und Migration nicht, wir brauchen die sowieso und sie ausbilden, sie integrieren – das werden wir doch noch hinkriegen? Oder? Mit den AfghanInnen – ob über Griechenland oder Belarus oder Polen oder. – zeichnet sich der gestrigen Besprechung der Taliban ein ähnliches Dilemma wie mit Polen ab:

https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2021-10-21/page_2.496974/article_1.5444711/article.html („Punktsieg für Russland“ von Thomas Avenarius). Die Russen verhandeln mit den Taliban und bringen die gleichen Forderungen wie der Westen vor: Schutz von Frauen und Minderheiten, Bekämpfung von Hunger und Armut. Der Westen hat einen Krieg verloren und ist daher in der schlechten Position gegenüber den Siegern. Demokratie und nachhaltige Politik bleiben dabei auf der Strecke…macht doch dem Kreml nichts, aber uns und den AfghanInnen.

Und was machen wir? Keine rhetorische Frage, und jetzt, bevor wir den Seehofers den Zapfenstreich blasen, kann man noch darauf drängen, dass die neue Regierung das deutsche Gewicht in der EU nutzt, um eben das zu ändern, was uns jetzt blockiert. Wenigstens eine Korrektur von Dublinabkommen, Aufnahme- und Asylbedingungen und Verteilung von ankommenden Geflüchteten MUSS im Programm stehen und verwirklicht werden.


[1] In keinem der etymologischen Wörterbücher mehr verzeichnet: Untam ist nicht die Ableitung aus „untamed“=wild, ungezähmt, sondern meint einen, der kein Tam ist (der wäre ein Guter, Kluger etc.), aber den Tam gibt es nicht, und der Untam, unvergesslich aus der Wiener Kindheit, ist ein Naffel oder sonstwie aus der Reihe der Respektierten tanzender – so wurde ich auch bisweilen beschimpft. Später nicht mehr, da war der Begriff verschwunden.

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