Unordnung und Durchatmen

Unordnung und Durchatmen

1.

Ich eifere nicht Thomas Mann und seiner Novelle „Unordnung und frühes Leid“ nach (1925), mein Titel ist spontan, aber es gibt einen Bezug: man kann Vergangenheit bearbeiten, lebendig machen  und für sich nutzen, für alle nutzen, aber man sollte ihr nicht nachtrauern.

Unordnung kann heute zweierlei bedeuten: die grenzenlose, oberflächliche Schlamperei der Wahrnehmung und Argumente, das Fehlen von Sorgfalt im Diskurs, die Müllhalden in den eigenen Umgebungen, Nostalgie und Historismus anstatt Reflexion dessen, was uns gemacht hat und wovon wir anderswohin ausgehen müssen, um zu überleben (Finis terrae!).

Unordnung kann aber auch ein Befund sein: Sie hängt eng mit der Unübersichtlichkeit zusammen, der Habermas eine seiner besten Aufsatzsammlungen gewidmet hatte (1985). Darin gibt es den Essay: „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“ (141-163). Lesen, Stoff genug, auch zu sehen, wer sich heute so mit diesen Themen beschäftigt. Deren wichtigstes ist für mich die Abkopplung der gesellschaftlichen Entwicklung von der ausgeübten Macht. Das Fehlen von Utopie – nicht Utopismus! – bedeutet auch Verengung der Zukunft auf Statik und falsche Gegenwart. Zeitgeist ist da so ein Ausgangswort, wo und wie ist er heute zu beschreiben? Gegenwartsdiagnosen dürfen es nicht bei sich selbst aushalten, gut, aber wie machen wir das, wenn all das den Bach runterzugehen scheint?

Genug der Einleitung.

2.

Die Münchner Sicherheitskonferenz ist als langatmiges, aufregend banales Ereignis zu Ende gegangen, im Vergleich zu den Jahren davor auch uninspiriert mehr als nur Ratlosigkeit zeigend: Unordnung im Denken, Feigheit der möglichen Moral.

Cem Özdemir ist wichtiger geworden als die ganze Konferenz. Er zeigt, wie unmöglich Außenpolitik geworden ist, die nicht mit den Ambiguitäten der Wirklichkeit umzugehen weiß. (Man hätte die türkische Delegation nach ihrer Anzeige rausschmeißen müssen, nicht nur Cem Özedemir schützen, was natürlich vor allem richtig war).

3.

Die Unordnung besteht darin, nicht mehr zu begreifen, dass Parteiergreifen oft nicht möglich ist, und Pragmatismus nicht Gleichgültigkeit bedeutet. Wer hat „mehr Recht“ – Erdögan in Afri, die USA mit ihrer Unterstützung der Kurden, Assad mit seiner Unterstützung der Kurden, die Russen mit ihrem Bündnis mit Erdögan und Assad, alle gegen den IS, die USA und Israel gegen Assad etc.? So zu fragen, bedeutet, keine Antwort erhalten zu können, ich vermute, gar keine zu wollen.

In meiner Wissenschaft gehört hinzuschauen und zu verarbeiten, was ist, also was wahrgenommen werden kann und in einen Kontext einzuordnen, zu den primären Tugenden. Die Wirklichkeit aus einer Konstruktion abzuleiten, die immer schon den Rahmen für das zu untersuchende System abgibt, reicht nicht, geht oft gar nicht. So taugt die Konstruktion  des „Westens“ zur Standortbestimmung schon deshalb nicht, weil es außer und außerhalb dieses Westens nichts konkretes, profiliertes gibt, als den Nichtwesten. (Der Osten ist es nicht, der globale Süden ist es nicht, der nichtwestlliche Norden auch nicht…wenn ich mich für den Westen stark mache, dann nur im Kontaxt und konkret). Ich schreibe das auch unter dem Eindruck einer innergrünen Debatte, die den Westen gern fundamental kritisiert, aber nicht genau weiß, welche Bündnispartner man sich mit der Westkritik einfängt. Um die Metapher genauer zu erklären: Ich habe vor Jahren Anstoß an der Politikerfloskel „Deutsche und Juden“ genommen, und einem Aufsatz den Titel gegeben „Rund um uns Millionen Nicht-Juden“. Übertragt das mal auf eine Welt: rund um uns globaler Nicht-Westen…

In diesen Tagen zerfällt die Weltordnung, die keine war. Die Toleranz gegenüber Diktatoren und Verbrechern, großen und kleinen Machthabern, korrupten, rassistischen, sexistischen Kleptokraten etc. wird immer doppelt gerechtfertigt: a) besser mit jemandem dieser Art zu reden als sich auf eine verbissen-schweigende Konfrontation vorzubereiten; b) man sei durch Bündnisse, Verträge und Realpolitik zu dieser Toleranz verpflichtet, auch wenn die Kontrahenten diese Verträge nicht einhalten bzw. das Bündnis schamlos zur Erpressung ausnutzen.

Der Kalte Krieg war nicht ordentlicher als die Welt heute. Die Polarität der Herrschaft war nur eindeutig, und die Linien der Dominanz waren klarer. Keine Nostalgie, bitte. Die Unordnung der Jahre 1985-1990 war ungleich fruchtbarer und friedensförderlicher als viele andere Perioden. Ein großer Irrtum allerdings ist uns, auch mir, unterlaufen: wir hatten zu einfach geglaubt, ein Zeitalter fortgeschrittener Vernünftigkeit würde in den Beziehungen von Staaten einkehren, weil ja die Gesellschaften darauf drängten.

Wir waren nicht naiv, damals. Eher zu erwartungsfroh, wo uns die Utopie-Lehre bedeutete, welche Voraussetzungen erst geschaffen werden mussten, um den Frieden zu festigen und die Vergangenheit zu bewältigen. Geld und kurzfristige Abrüstung waren zu wenig. Die Unordnung von Befreiung hatte nicht etwa nur Freiheit vorrangig gebracht, sondern auch den Boden für Orbans, Le Pens, Straches und andere mehr oder weniger scheusalige Autokraten bereitet, die alle nicht die Demokratie als Grundlage für die Einlösung von Zukunftsoptionen anerkennen (und es wird nicht hinreichend bestraft, wer solches zum Prinzip macht).

(In einem dramaturgischen Szenario würde ich gern die Aufgabe stellen, zum Satz: wir haben die Feinde aufgerüstet und uns abgerüstet, um ein Beispiel zu geben. Ich mache das nicht, weil es zu kurz eine Wahrnehmung macht: wir haben geglaubt, ohne die Grundlage von Vertrauen zu schaffen. Dieser Klammereinschub ist nicht meine Position, aber sie drängt sich eben auch auf).

Warum ich den Grundton der politischen, der „anthropologischen“ Verzweiflung nicht mildere, und trotzdem nicht in Tristesse oder ohnmächtiges Aufbegehren mich verabschiede? Weil es natürlich – natürlich im Wortsinn – gegen diese ganze Misere Widerstand gibt, Lieblingswort der Kritiker: heute Resilienz, und weil es ein quia absurdum gibt. Dass Widerstand möglich ist, und dass er viele Gesichter hat, auch unter widrigsten Umständen, zeigen viele: die amerikanische Justiz, eine Minderheit von Medien in Polen, Russland oder der Türkei, Personen mit Zivilcourage wie Yücel, eine lange und würdige Liste ohne Rankings: eines ist den Genannten gemeinsam: sie stärken die Gewalttäter an der Spitze von Staaten nicht dadurch, dass es sie gibt. Widerstand als Weihrauch der Opfer für die Täter ist falsch. Und: jeder Widerstand hat auch eine Ordnungsstruktur in Latenz. Ungerichtet ist er kein Widerstand, sondern Aufbegehren, Empörung…. wem nützt das?

Und quia absurdum. Einer meiner Lieblingssätze, das absurdum ist nicht absurd, sondern meint eher unvernünftig, unpassend. – im Wörterbuch steht auch noch abgeschmackt und unbrauchbar. Aber das ist es. Eine Unordnung kann nicht mit der Rationalität ihrer Verursacher zu einer akzeptablen Ordnung führen. Eine illiberale Demokratie, wie Orban sein Paradies nennt, kann nicht liberal werden und schon gar nicht demokratisch; America first setzt die Ordinalzahlen außer Kraft. First vielleicht, aber wenn niemand ernsthaft nachkommt, dann steht der nackte Kaiser auf weiter Flur und friert (hoffentlich bevor er die Bombe wirft).

Immer, wenn Menschen an den Umständen ihres Lebens verzweifelt sind, gab es zwei Ausgänge: in den Untergang und schlimmere Umstände, oder in die Freiheit. (Etwas besseres als den Tod findest du immer…stimmt leider nicht: oft waren die KZs, der GULAG, die Folter, der Verrat schlimmer als das Auslöschen von aller Welt). Aber wenn der Durchbruch geschafft war, dann setzt Befreiung ein, Befreiung „zu“ wohlgemerkt, das „von“ liegt hinter uns. Unordnung in Welt und Politik ist der noch nicht zum Lehrplan geronnene Mainstream der genormten Auffassung. Wer sich befreit, schreibt selbst am Curriculum mit.

Wichtige Ergänzung:

Aron R. Bodenheimer, bedeutender Psychoanalytiker, querdenkender Erforscher des Judentums, und ein guter Freund, hatte im Oktober 1991, im Zeitalter hoffnungsfroher Befreiung und neuer Kriege, einen Vortrag in Oldenburg an der Universität gehalten: Plädoyer für die Unordnung“, aus dem drei Jahre später ein Buch wurde, gleichen Titels: (Verlag c. Haux, Bielefeld 1994). Dieses Plädoyer, außerordentlich umfangreich, facettenreich, voller Verzweigungen, ist ganz und gar nicht unordnetlich, aber es ist ein Hinweis auf die aktuellste aller Entgegenstellungen: wenn Ordnung Sicherheit bedeutet, engt sie im Übermaß die Freiheit ein, und das Übermaß erkenntman, wenn die Freiheit eingeengt wird. Lest das.

Mir ist das Buch wiedergekommen, als ich heute morgen hörte, die bayrischen Kommandos hatten wie der 14 Afghen abgeschoben – Straftäter, Gefährder usw. – also tendenziell in den Tod geschickt. Die 14 hätte man auch hier gut verwahren könnnen, es soll aber ein Zeichen sein, im Namen des Christentums, des Sozialstaats, der Ordnung – nicht viel anders als 007: mit Lizenz zu töten. Die Täter heißen nicht nur Hermann, de Maizière und wie sie alle heißen, unsere Sicherheitsbeauftragten. Auch wir haben eine Verantwortung dafür, und die Antwort lautet nicht einfach: keine Abschiebungen. Sondern Justizreform, sie lautet schlicht: Rechtsstaat.

 

 

 

 

 

 

 

 

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