Grün gewinnt. Ein starkes Signal.

Überrascht mich die Wahl in MV nicht. Der Ärger ist verraucht. Ein wenig ist sogar Freude an einem kleinen Trost im Desaster unserer Grünen Partei drin: wir sind die einzige Partei, die keine Stimmen an die AfD abgegeben hat. Da stimmt doch etwas.

(Ich mache nicht oft Propaganda für meine Partei in diesem Blog, aber manchmal muss es sein).

Insgesamt ist die Situation misslich und nicht im Schnelldurchgang von Analysen zu bewältigen, die ja alle längst vorliegen. Ich rate nicht zur Gelassenheit; sondern zum Denken politischer Veränderungen, die für die demokratische Mehrheit dieser Gesellschaft anstehen.

  1. Die Flüchtlinge, die ausländischen Bewohner dieses Landes sind nicht Ursache, bestenfalls diskursiver Anlass zu einem Wahlergebnis, an dem die mit Haftung tragen, die ständig die Ängste und Sorgen der selbsternannten Bevölkerung ernster nehmen als die Befunde der Wirklichkeit. Wenn das anders ankommt – wir haben verstanden, raunzen die Vertreter aller Parteien – dann fragt sich, ob sie nur die Flüchtlingslüge der Rechten auf ihr Verständnis von Verantwortung übertragen. Was bedeutet das im schlechtesten Fall?
  2. Mehr Abschiebungen, oft in Tod und Elend? Mehr sichere Herkunftsländer, die eben nicht sicher sind? Mehr Schikanen von Staats wegen für die, denen die Mehrzahl der Bürger sehr wohl Unterstützung angedeihen lässt (wohlgemerkt, keine Liebe, keine Freude an den Ankommenden, einfach Empathie: da sind echte Menschen der Gewalt, dem brutalen Sterben oder der krassen Armut entkommen). Empathie und ein Augenblick an die menschliche Würde denken, reicht völlig aus, um nicht falsch zu handeln. Geld, Ressourcen, Kommunikation, Instrumente – sie sind alle da.
  3. Unsere Justiz ist zu oft nur peinlich. Staatsanwälte tun alles, um die Morddrohungen, die Gewaltaufrufe, die Pöbeleien und die Lügen der rechten Hetzmeuten herunterzuspielen – es sind ja nur Worte, die sind ja alle durch die Meinungsfreiheit geschützt….jetzt auf einmal. Hier agieren die Schüler der Schüler der schrecklichen Juristen.

Lesen Sie von 2012 (!) „Das rechte Auge“ Von Benjamin Lahusen 9. Februar 2012 DIE ZEIT Nr. 7/2012, oder gleich Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord. Verlag der neuen Gesellschaft, Berlin-Fichtenau 1922. Übrigens kann man hier auch lernen, wozu Statistik gut ist: wenn sie den Behauptungen über das Volksempfinden entgegengestellt wird.

  1. Nein, politischer Mord ist nicht an der Tagesordnung, ich sage auch nicht „noch nicht“. Aber ungestraft darf ein AfD Abgeordneter der Regierung den Tod wünschen (Sachsen). „Leider hat es nicht die Verantwortlichen dieser Politik getroffen“ (Sebastian Wippel AfD, 312.8.2016 im Plenum).
  2. Ich weiß auch, dass viele AfD Wähler das nicht wollen, sie suchen nur ein Ventil, um ihre Abneigung gegen die Regierenden, die Eliten, das Establishment etc. zu zeigen. Diese Abneigung wird von der Parteiführung erbarmungslos instrumentalisiert und die Verführung besteht darin, sich plötzlich als politische Akteure „Ernst genommen“ zu vermeinen. Aber eine autoritäre, antidemokratische Parteiführung beruft sich auf ihr Mitspracherecht, um die Voraussetzungen, unter denen sie den Rechtsstaat genießen darf, zu zerstören. Genießen…das sollten die Asylsuchenden laut Grundgesetz, nicht ihre Feinde.
  3. Es kommt auf den Ton und den Inhalt an, in denen wir mit der AfD reden sollen. Auseinandersetzen heißt nicht, sich mit den Stimmungen identifizieren, um dann andere Lösungen vorzuschlagen (so treibt die AfD die großen Parteien vor sich her). Auseinandersetzen heißt, eine eigene Position so zu präzisieren, dass man etwas zu einem Thema zu sagen Und das bezieht sich auf das, was und wie man handelt, nicht was man will.
  4. Herr Gauland befürchtet, dass die obgenannten Volksteile den Verlust ihrer Heimat befürchten. Diese Vorstellung von Heimat ist eine Wurzel der Gewalt, die in Gewalt enden wird. Wenn wir nichts dagegen tun. So, wie wir die Republik nicht den Republikanern hinterlassen haben, dürfen doch nicht die Heimat dem verschmockten Schnulzenradikalismus überlassen.

Lesen Sie Ernst Bloch: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Prinzip Hoffnung (1959), S. 1628)

  1. Die reale Demokratie IST nie; sie WIRD immer weiter, dann ist sie auch in jeder politische, sozialen, moralischen, ästhetischen Situation, im JETZT, nicht ohne uns, versteht sich. Zurück zu Punkt 1: WAS haben die Politiker verstanden? Dass ein Angriff auf die Demokratie, unsere Freiheit im Namen von Sicherheit und Delegation von Menschenwürde im Gange ist, und sie sich zu Instrumenten eben dieses Angriffs machen?
  2. Misstrauen wir jedem Politiker, der meint, es müsse ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit geben. Die beiden liegen so wenig auf einer Ebene wie die menschlichen Grundrechte, voran die Würde, und der Staat, der ein Gewaltmonopol haben sollte, sie zu schützen, und dies statt dessen teilweise an die Stimmungsherrschaft und die Wertegemeinschaften abtritt. (der Plural hats in sich, denn nicht alle dieser Gemeinschaften sind gleichberechtigt, die Kirchen, Kammern, Verbände dürfen mehr als andere. Gerade bei den Kirchen kann man die Ambivalenz sehen: manches ist wunderbar human, manches rückständig).
  3. Ansonsten: Man verfolge den Aufstieg zur stärksten Partei bei den österreichischen Nazis, die sich freiheitlich nennen und eine analoge Praxis verfolgen.
  4. Im übrigen: die Grünen sind nicht zur AfD gewandert. Sie haben wirklich verstanden.

Daraus folgt:

  1. Unbegründete Ängste nicht ernster nehmen als die Lebenssituation von Menschen. Flüchtlinge nicht gegen andere soziale Verwerfungen ausspielen lassen.
  2. Aufhören, Angela Merkel als Urheberin und Agentin einer insgesamt eher erfolgreichen Aufnahmepolitik zu isolieren: sie hat diese Politik angeführt, und zwar im Prinzip richtig (politisch-moralisch, nicht aus dem Besitzstandsreflex der Rechtsnationalen in CSU und AfD).
  3. Öffentlicher und deutlicher Protest gegen den Versuch der CSU, die AfD rechts zu überholen, namentlich durch Seehofer, Söder, Stefan Meyer und Scheuch.

Lesen Sie: Elias Canetti: Masse und Macht, Ffm 2011. Hetzmasse und Hetzmeute sind Schlüsselbegriffe einer Gewaltdynamik, die oft bis zum äußersten geht und (sich) oft nicht kontrollieren lässt, wenn bestimmte Punkte überschritten sind.

  1. Wir sollten weiterhin FLÜCHTLINGE und NICHT NUR ASYLSUCHENDE aufnehmen. Bis es eine europäische Lösung gibt, müssen wir versuchen, das mit Grenzschutz und Hilfe in den betroffenen Regionen zu verbinden, d.h. zum Beispiel
  • Konkret Griechenland und Italien unterstützen
  • Konkret das Abkommen mit der Türkei pragmatisch befestigen (ich weiss schon, Erdögan: aber wir haben viele Verträge mit vielen Diktatoren, und wir haben die Macht, die andere nicht haben: dennoch sie in die Schranken zu weisen. Das gilt für Erdögan, Putin und andere Machthaber)
  • Konkret in Jordanien, im Libanon, ggf. in Israel Auffanglager für Verfolgte schaffen
  • Rückkehrmöglichkeiten verbessern, nicht die Abschiebungsmaschinerie ölen

(gerade gegenüber Menschen aus Afghanistan und einigen afrikanischen Ländern, wo die Todesgefahr nicht aus einem anerkannten Bürgerkrieg kommt, ist schon die Rhetorik der Deportation ein Schritt zu deren Existenzvernichtung)

  • VOR JEDER INTEGRATION dafür zu sorgen, dass Ankommende für ihre schlimmsten Traumata (Hunger, Verfolgung, Folter, Todesgefahr bei der Flucht) Unterstützung bekommen (Nicht die blödsinnige „Verschärfung“ der Asylgesetze als Tummelplatz der Schürer von Hysterie: legalisierte Unmenschlichkeit)
  1. Wenn wir wirklich verstanden haben, dann heißt das, wie in Pkt 5 oben angedeutet, die Rechten dort „stellen“, wo ihre Rede und Rhetorik droht, in grausige Praxis umzuschlagen. Auf der Ebene des Volkes bedeutet das noch immer Aufklärung vor Drohung; auf der Ebene der Scharfmacher in den Parteiführungen und Hinterbänken der Parlamente: nützt Aufklärung wenig, sondern die Attraktivität der Rebellen gegen das MV verdeckt dieEstablishment müssen wir aktiv demontieren. Das heißt, auch wir müssen uns aussetzen, öffentlich dagegen unbequem werden, dass wir die Folgen der Toleranz gegenüber der Hetzmeute nicht akzeptieren. (unter anderem nicht die als Rechtspopulisten verharmlosen, die die Strategie der Nazis vor 1933 geschickt kopieren, aber auch nicht die als Nazis denunzieren, die ihre Befindlichkeit im autoritären Geführtwerden aufgehoben sehen wollen, auch wenn‘s ihnen individuell und subjektiv schadet und schaden wird (HIER ist eine Analogie zu Trump und Orban gegeben).
  2. Demnächst wieder „Finis terrae“, die Fortsetzung der Überlegungen zur Gegenwartsdiagnose. Auch die Debatte nach MV verdeckt die wirkliche Situation der Zeit.

Österreichs Chance

Mit Ihnen sind wir viele.

vanderbellen.at/mitmachen

Ich mache Werbung. Die meisten, die meinen Blog lesen, wählen nicht in Österreich, aber nicht nur für die Grünen ist es wichtig, genau hinzuschauen, was sich beim Nachbarn tut.(Vgl. die Blogs vom 20.3., 5.7. und 7.8.).  Nun steht eine Wiederholung der Wahl zum Bundespräsidenten an. Das ist mehr als ein symbolischer Akt demokratischer Pflichterfüllung. Österreich ist, wie Deutschland, eine einigermaßen gefestigte Demokratie, die seit Jahren vehement von rechts-außen angegriffen wird. Die Wurzeln dieser teilweise völkischen, teilweise identitären, teilweise einfach biertisch-autoritären Politik sind vielfältig, sie wurden durch eine zutiefst demokratie-müde Tradition unpolitischer Machtkoalitionen nie bloßgelegt. Wenn ein gewisser Hofer die Wahl gewinnt, steht schwarz-blau (de facto schwarz-braun) in Aussicht, wieder einmal finis Austriae.

Jetzt steht Alexander van der Bellen zur Wahl.

Ich würde hier gerne über meine Bekanntschaft mit ihm und unser freundschaftliches Verhältnis damals schreiben, aber wir haben uns lange nicht gesehen und man muss nicht zu viel Subjektives einbringen. Also zur Politik: AvdB ist ein ruhiger und kluger Mensch, der Politik als das betreibt, was ein anderer kluger Mensch so beschreibt: nicht Meinung, sondern Denken. Und dementsprechend Handeln.

Das hat Österreich dringend nötig. Der Flurschaden, den große Koalition nicht nur in der eigenen Gesellschaft, sondern in Europa angerichtet hat, ist beträchtlich. Und wieder liegt das Land zwischen „Blöcken“, dem Westen mit seiner fatalen bayrischen Schleuse, und einem fast unglaublichen autoritären, jedenfalls nicht-demokratischen Osten. Das zu verharmlosen fällt nur Wirtschaftsführern leicht, die glauben, man werde Polen, die Tschechen, Slowakei, Ungarn, Kroatien schon mit den Beträgen aus dem EU Regionalfonds zur Räson bringen. Man wird nicht.

Alexander van der Bellen steht für eine menschenrechts-geleitete Außen- und Innenpolitik, für eine ethisch begründete Vorstellung vom guten Leben in einem Land mit Anschlussfähigkeit an die Kultur und Bedürfnisse anderer Gesellschaften. Es täte auch vielen in Deutschland gut, seine Aussagen und seine politische Statur gut zu kennen; die geht weit über die Grünen hinaus, und das stiftet auch Solidarität.

In Deutschland diskutieren die rechts-außen Politiker der christlichen Koalitionsparteien das Ende der doppelten Staatsbürgerschaft. Das geht natürlich gegen die Türken und andere muslimische Doppelstaatsbürger. Es wird vom CSU Generalsekretär mit der unmöglichen doppelten Loyalität begründet. Ich bin auch Doppelstaatsbürger (und hätte früher sogar noch eine dritte Staatsbürgerschaft haben können). Natürlich kann man mehr als einer Gesellschaft und mehr als einer Verfassung gegenüber loyal sein. Die Rechten fordern einen kulturellen Kadavergehorsam gegenüber dem, was sie als Werte und Tugenden verengt vorgeben. Um dem demokratisch zu begegnen, sollten wir „republikanisch“ antworten: uns an die Regeln, die wir uns gegeben haben halten, und öffentlich das tun, was der Res Publica gut tut. Das setzt auch Stil und die Hartnäckigkeit voraus, nicht auf jedes populistische Köderchen aufzuspringen. Den Stil und diese Beständigkeit hat AvdB.

Jetzt steht Alexander van der Bellen zur Wahl. Eine Alternative in Österreich ist wirklich undenkbar. Mit Alexander van der Bellen dürfen wir alle aufatmen.

Mit Ihnen sind wir viele.

vanderbellen.at/mitmachen

Ratlos. Mutlos.

Ratlos zu sein, ist keine Schande. Mutlos kann jeder einmal sein. Widerlich ist es, aus Ratlosigkeit und mangelnder Courage auch noch Tugenden zu machen.

Wäre die Politik gegenüber den neuen Diktaturen Russland und Türkei einfach, gäbe es mehr oder weniger bewährte Rezepte für Kommunikation und Handlungen. Wüsste die Politik in den Demokratien wieweit die Mitgliedschaft in der EU für die autoritären nationalistischen Mitglieder tatsächlich essentiell erscheint, könnte man mit einfachen Sanktionen, einfacher Regeldurchsetzung zur Tagesordnung übergehen, die da heißt: mehr Integration, mehr Bundesstaatlichkeit, weniger nationale Souveränität.

Aber es scheint, als hätten sich Umstände gegen den Gebrauch des Verstandes verschworen, weil die Politik sie nicht anders begreifen kann. Das ist hinterhältig. Noch vor ein paar Wochen konnte ich die Reflexionen von Wissenschaftlern und Künstlern preisen, die zwar nicht auf den Politikseiten, aber im Feuilleton versucht haben, zu erklären, was schwer zu verstehen ist: eine unerwartete, aber nachvollziehbare Situation des politischen und rechtlichen Zerfalls supranationaler, globaler Politikbeziehungen. Damit verbunden die berechtigte Kritik, dass es keine Rückkehr zum alten Nationalstaat und zum Westfälischen System geben würde, weshalb der neue Nationalismus besonders feindlich bzw. wahnsinnig eingestuft werden müsse. Nach dem Putschversuch in der Türkei und Erdögans verbrecherischer Herrschaftsübernahme, nach den Anschlägen, Amokläufen, Drohungen hat sich etwas verschoben.

Zum einen arrangieren sich (fast) alle Vertreter auffällig schnell und unverstellt mit den neuen Machtkonstellationen (das nennen sie pragmatisch). Zum andern aber wird unter dauernder Beschwörung des Pluralismus und der Lebensart unserer freien Gesellschaft die Vielfalt der Meinungen zu einem Eintopf der Freiheit stilisiert, als ob Meinungen zu haben bereits das angemessene Handeln wäre.

Meinung haben, heisst nicht automatisch etwas zu sagen zu haben. Wenn man dann aber ausspricht, was den Meinungen entspricht, kann und muss man die Konsequenzen bedenken. Oder man soll schweigen. Das Gilt für die Eliten, das Establishment wie für jeden anderen Menschen. Aber es macht einen Unterschied, ob ein Bundeskanzler sich für das Ende der Türkeiverhandlungen der EU ausspricht (Kern, Wien) oder ein Stammtisch ähnliches rülpsend von sich gibt. Es macht auch einen Unterschied, ob die geäusserte Meinung für den, der sie äussert Folgen hat oder absehbar haben kann.

Mein Punkt, und warum ich überhaupt hier weiterschreibe ist, dass Meinungen, die sich auf Praktiken beziehen und Folgen haben sollen, erkennbar ethisch, moralisch, ästhetisch eingebettet sein müssen – sonst sind sie zwar auch legitim, aber nicht tauglich für den öffentlichen Raum ausser eben Meinungen unter vielen – und aus dieser Einbettung müssen sich Folgen für die Besitzer dieser Meinungen ergeben.

Einige Vorbilder, nicht zufällig aus der Literatur, nicht zufällig ausgewählt:

Alexander Solschenyzin: ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

Agota Kristof. Das große Heft (1987)

Nadja Tolokonnikowa: Anleitung zu einer Revolution (2016)

In allen drei Büchern geht es um Widerstand, um einen an die Würde gebundenen Widerstand. Ich kann nicht unmittelbar mein Leben zu den drei Texten in Beziehung setzen, aber ich weiss, was die Meinung jeweils bewirken kann und soll. Dazu gehört nicht nur Mut, sondern auch das Aushalten, wenn der Widerstand keinen direkten Erfolg hat. (Ich muss übrigens nicht mit allen Praktiken, die empfohlen werden übereinstimmen, darum geht es gar nicht, weil die Kontexte ja unterschiedlich sind: es geht darum, zu wissen, wozu und warum sich ein Mensch exponieren muss oder wenigstens dem Pragmatismus der Anerkennung von Macht entzieht).

Vor kurzem haben sich mein Freund T. und ich darüber unterhalten, warum es heute jedenfalls bei uns niemand gibt wie damals Karl Kraus oder Tucholsky: systematisch und über Jahre hinweg sich aussetzen den Folgen der geäusserten Kritik. Kritik ist wenigstens auf Praxis hin reflektierte Meinung, das Gegenteil von dem, was man ja noch wird sagen dürfen: die gefahrlos als Meinung getarnte Unterwerfung unter die Macht (wer Diktatoren die Füsse küsst, muss mit Pilz im Mund rechnen). Warum gibt es sie nicht, aller Satire und Polemik zum Trotz, ja, allen der von mir hochgeschätzten Reflektoren in den kritischen Medien zum Trotz?

Zwei Antworten: bei uns ist es ungefährlich, Kritik zu üben, die Sanktionen bei Grenzüberschreitungen sind überschaubar und in fast allen Fällen zu ertragen. Das ist ein Fortschritt und darum leben wir hier besser als in Russland, der Türkei oder Ungarn. Und: wir sind uns nicht wirklich im Klaren darüber,was geschieht,  wenn unser Widerstand so herausfordert, dass eine Reaktion die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Böhmermann hat einen leichten Vorgeschmack in dieser Richtung gegeben.

Das bedeutet aber, und ich empfinde Unbehagen bei dieser Wahrnehmung, dass unsere Freiheiten unter Umständen wegen ihrer geringeren Relevanz in Anspruch genommen werden können, was ihre Einschränkung paradoxerweise erträglicher macht. Es bleibt im Vergleich zu anderen noch immer eine Menge übrig…

Tolokonnikowa mit ihrem Punk und ihrer Auflehnung hat auch Glück gehabt. Sie reflektiert das, aber sie zeigt auch, dass man erst einmal die brutale Macht provozieren muss um dieses Glück haben zu können (das ist der Unterschied zu unseren eingebetteten Freiheiten, ob unsere Macht zu Putinscher Brutalität fähig wäre? Jede Macht ist zu allem fähig. Unser, jedenfalls auch mein Fehler, in den späten 60er und frühen 70er Jahren war, den Anbruch der neuen Diktatur schon vermeintlich zu spüren, auch: den Staat mit der Macht zu verwechseln). Glück braucht der Einzelne, oder eine Gruppe.

Die Prozeduren des Rechts und Rechtsstaats sind langwierig, und die Schlaumeier mit ihren Abkürzungsversuchen haben selten Erfolg (das ist der Unterschied zu Aktionen, die auch ins Auge gehen konnten, wie Pussy Riot).

Darum habe ich mich auf die Distanz zur Meinungsfreiheit eingelassen. Die Meinung zu bilden ist eine, sie zu kommunizieren eine andere Freiheit. Über Jahrzehnte hat sich die deutsche Linke über den Pluralismus als bürgerlichen Kampfbegriff gestritten, durchaus verwandt mit Diskussionen um politische Korrektheit, und für mich ärgerlich: unter überwiegend marginalisierter Kritik der Toleranz. Ich mach hier kein Kolleg auf, aber es wäre mir wohler, wenn solche Diskussionen unter den heutigen Umständen aufgegriffen, auch ein wenig ent-wurzelt, wieder aufgenommen werden könnten. Die Ambiguität politischer Entscheidungen und ihrer Folgen, die Gleichzeitigkeit unvereinbarer Wahrheiten kann konkret durchgespielt werden. Erdögan, der Flüchtlingspakt, der Putsch, die EU-Beitrittsverhandlungen, Islam a la Gülen etc. all das lässt sich nicht eindeutig und im Zusammenhang verstehen, und doch ist es in jedem seiner Elemente erklärbar. In jedem Fall gibt es immer einen Punkt, in dem wir selbst – ethisch, moralisch, ästhetisch, ideologisch – siehe oben – mit im Spiel sind und auch oft schuldig. So, wie die meisten „Europäer“ mit der Türkei jahrzehntelang umgegangen sind, sind viele Reaktionen der jetzigen Machthaber dort verständlich, wenn auch nicht gerechtfertigt. Aber vor welchem Richter? So, wie sich unser Alltagsrassismus in die Pauschalisierung des Ressentiments rettet (stets „Viele“ mit „Allen“ vertauschend, und dann in den Singular zurückfallend: der Türke, der Russe, der Muslim), aber unseren Pluralismus hochheuchelnd und niemals zu sagen, dass der Christ eigentlich das Vorbild aller religiösen Massenschlachterei ist, theologisch wie praktisch….und dass es den Deutschen so viel weniger „gibt“ als die Franzosen, Engländer oder Schweden (o Schmerz, und was ist erst mit den so genannten Österreichern?); genauso gehen wir dem Schmerz der Ambiguität aus dem Weg. Weil wir in unsern wattegebetteten Freiheit sicher länger und besser leben uns überleben werden als die mit unserer Mitbeteiligung ertrunkenen Kinder im Mittelmeer, als die nicht ausgenutzten Möglichkeiten, Flüchtlingen das Überleben hier in Deutschland besser zu gestalten ohne sie gleich zu integrieren (wohin eigentlich integrieren? In die Hetzmeuten aus CSU, AfD und Pegida? In die andauernde Korruption von vielen (nicht allen!) in der Politik, Wirtschaft und Kultur?).

Ich rufe jetzt nicht „Empört euch!“ oder „Verweigert euch!“. Ratlosigkeit kann die Praxis des Ratsuchens befördern, statt das beschämende Gezappelt im Halbdunkel des status quo zur alternativlosen Maxime zu erklären (das geht nicht gegen die Person Merkel, sondern nun tatsächlich gegen die bräsige Selbstzufriedenheit unserer Elite, die ja noch aus griechischen Bankenkrise üppige Gewinne zieht und aus dem Bauboom von Containerunterkünften).

Und was den Mut betrifft. Tue Richtiges und rede darüber! Gilt nur für die, die begonnen haben, etwas zu tun (Tolokonnikowa). Wer die Forderung nach Zivilcourage mit nichts Praktischem verbindet, soll sie nicht erheben und den Mund halten.

Kein Krieg. Politik

Jede Kriegserklärung ist ein Sieg der Terroristen. Schon nach 9/11 war der War on Terror eine fatale, für tausende Menschen tödliche Falle. Kriegserklärungen – juristisch oder bloß rhetorisch – bezeichnen Augenhöhe: man bekämpft sich, aber man ist im gleichen Regelsystem „eingebettet“, z.B. anerkennt man die Haager und Genfer Konventionen. Krieg sagen bedeutet, wie die Erklärung von dauerhafter Krise, den Griff nach dem Ausnahmezustand. So sagt es ja auch der schwache französische Präsident. Wir sind nicht im Krieg, sondern Angriffsziel von Verbrechern, die politische, religiöse, ideologische oder schlicht wirtschaftliche Gründe haben, andere Menschen zu töten oder zu bedrohen. Auch wenn der Islamische Staat sich so nennt, ist es doch eher so, dass auch eine Mafiabande sich Familie nennt. Diese Unterschiede zu erkennen, zu deuten und daraus Konsequenzen ziehen, wäre ein Zeichen von aufgeklärter Bildung. Dem verweigert sich der vorgeblich antipopulistische Populismus der meisten Politiker, die immer nur eine Gegenwehr kennen: Überwachen und Strafen. Foucaults Untersuchung jetzt wieder zur Hand zu nehmen, ist ein praktikabler Rat.

„ ‚s ist Krieg!“ von Matthias Claudius „ich begehre nicht schuld daran zu sein“ ist ja doppeldeutig:  man möchte nicht schuldig am Krieg werden, aber auch man spricht sich frei von der Schuld, die kausal, als Ursache, die Gewalt mit begründet hat oder befördert (so wie man nicht „schuld“ sein möchte, wenn die Flüchtlinge zu Tausenden im Mittelmeer ersaufen, nur weil man eine falsche Grenzsicherungspolitik betreibt).

Jede Anerkennung des Gegners als Feind und Subjekt kriegerischer Gewaltanwendung kennt nur Sieg oder Niederlage. In der Anerkennung liegt schon der Respekt vor dem besiegten Feind. Darum sagen viele Politiker, auch bei uns, der Krieg werde lange dauern, weil man ja weiß, dass es in dieser Auseinandersetzung keine Sieger, nur Verlierer geben kann. Eben weil es gar kein Krieg ist.

Wir wissen doch, was gemeint ist, wenn Kinder den Krieg der Knöpfe spielen oder wenn Star Wars sich von Serie zu Serie kämpft. Warum wollen wir es jetzt nicht wissen, wo es wirklich blutig, ernst, mit vielfachem Sterben sich ereignet und wir mühsam versuchen, eine zwar mitleidige, aber doch Beobachterperspektive einzunehmen, die uns erlaubt zu urteilen.

Schon der Krieg gegen die Drogen ist kein Krieg. Schon der Krieg gegen Armut und Ausbeutung ist keiner, den man mit den Kriegen zu Entkolonisierung oder gegen eine Diktatur vergleichen könnte. Die Kampfesmetapher wäre angemessener, und Widerstand ist selten Krieg.

Natürlich nützen die Hetzer jeden Anschlag aus. Sie lügen die Geschichte zurecht (man lese Compact), sie sagen „Islam“ und meinen rassistische und ethnische Vorurteile, sie verbergen die Schuld anderer Religionen, vor allem des Christentums, in der Verabsolutierung des Anderen, des Islam, und denken nicht an die Folgen.

Die Nazis erklären uns – ich idealisiere uns als die kosmopolitische, kritische, aufgeklärte Zivilisation – den Krieg, wir müssen die Erklärung aber nicht annehmen. Frau Petry im Bürgerbräukeller, Herr Höcke im Reichsrasseamt, und wie sie alle heißen bis hin zu den alten Brexit-Briten, die vor Bedeutungsverlust kaum atmen können: sie alle leben davon, dass wir dazu neigen wie ein Pawlow-Hund auf sie zu reagieren.

Das heißt nicht, dass wir Kriegserklärungen, die innerstaatlichen Feinderklärungen (ich habe den Begriff von Peter Brückner auf die heutige Zeit verschoben) annehmen müssen, und passiv warten, bis sich die Täter totlaufen. Das heißt auch, dass der Staat sein Gewaltmonopol glaubwürdig wahrnehmen muss, dass man diese Leute nicht rück-um-erzieht, sondern ihnen den Platz im öffentlichen, politischen Raum verweigert, weil es mit ihnen nichts zu verhandeln gibt. Sie sind wichtig, weil sie eine Gefahr für Leib und Leben und vor allem für unsere Freiheiten darstellen, aber man muss sie deshalb noch lange nicht ernst nehmen. Damit sage ich, dass sie uns bedrohen, ob wir sie ernst nehmen oder nicht, und sie werden nicht einen Schritt sanfter, wenn wir ihnen bei Bagatellen entgegenkommen. Das beweisen auch Leute wie Erdögan oder Orban. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, aber sie sind nicht Teil jener Kommunikation, die uns erlaubt, uns mit der mühevollen, ächzenden, rückschlaggewohnten Demokratie zu reproduzieren.

Ich habe beim Krieg gegen Terror begonnen und lande bei unseren Nazis. Es gibt da Zusammenhänge, und zwar in unserem Verhalten, in unserer Einstellung und in unserer Kritik. Nicht dass wir Widerstand leisten, sondern wie wir das tun, ist wichtig. Und da kann uns schon der Widerstand gegen die korrupte, lässliche oder hinterhältige Form der Governance, der Regierungsführung helfen, legitim auf kriminelle und terroristische Akte zu reagieren, ohne das verlogene Balancieren von Freiheit oder Sicherheit mitzuspielen. Die Verbesserung unserer Demokratie und Regierung ist auch ein Beitrag im Abwehrkampf gegen Terrorismus.

Die Tage sind schlecht für gesinnungsethische Hierarchiebildung.

So klug und analytisch hilfreich vieles ist, das im Feuilleton, auf Podien, in politischen Schriften festgelegt ist – es ist wichtig! -, so ungenügend „erreicht es die Massen“. Die brauchen oft den Grundkurs in politischer Begriffsbildung. Man kann unschwierig Terror und Terrorismus unterscheiden. Staatsterror in anderen Ländern können wir von Außen nur ein wenig beeinflussen, aber nicht bekämpfen. Beim Terrorismus sind wir gefragt, auch wenn er normal zu unserem Alltag gehört.

 

Veterans and Deployment Returnees

Marburg University’s CENTER FOR CONFLICT STUDIES hosted the international conference on

                                                           DEPLOYMENT  RETURNEES

             Discourses and Living Worlds of an Emerging Social Group, 7-9 July 2016.

The program can be retrieved from https://www.uni-marburg.de/konfliktforschung/veranstaltungen_tagungen /rueckkehrer_innen

This is a short report on an unusually rich meeting. Some 40 scholars, advanced students and practitioners of various field, from 7 countries, produced a variety of presentations, panels and posters that set a baseline for the academic and political discourse on deployment returnees in Germany and opened a window for comparative and international exchange on field rather marginalized both in the academic and public spheres.

The conference followed the original call for papers and participation rather tightly. However, we regretted that there so few participants from the civilian deployment of NGOs, IGOs and diplomats, thus making the meeting concentrating on war veterans and returnees for out of area deployment. As a summary we can say that the conference brought remarkable insights in the lifeworld and environment of returnees, both under the aspect of their position in a private environment and a public sphere, where the construct “veteran” has become part of a very special discourse on peace and war, on being a soldier and becoming a veteran.

The keynote by David Jackson, from Exeter, set a tune: in his lecture on an alternative representation of the culture of war he asks for giving the returnees their voice and their “story of loss” (instead of pre-defining the space of discourse between normalcy and PTSD or other derangement). The experiences of returnees gave us a broad insight into the circumstances of the deployment and the reflections upon return, with a rather fundamental overview on the survey of German returnees (Anja Seiffert, Potsdam) and the questions about how to find a homeland again upon return (Lars Mischak, Rendsbrug).

One of the big questions is: who (and what) is a veteran? From legal definitions to subjective self-perception or logical constructs there were quite a few approaches. These definitions are pivotal for the issue of (re-)integration, for recognition by private and public environments, by social and cultural governance instances.

Very good comparative aspects were brought in by Marie Vivod, of Strasbourg, on Serbian politics, by Ken McLeish on the U.S. Veteran Treatment Court system, by Tatiana Prorokov Marburg) a with her U.S. critique of Irwin Winkler’s movie “Home of the Brave”, and the U.K. accounts by K.Neil Jenkings and David Jackson. The perception of danger by ex-combatants in Sierra Leone was exemplified by Anne Menzel. Of course, the special situation of Germany’s making of a new social group was a subtext of most discussions.

It was a conference that enriched the fields of military and political sciences by anthropology, history, ethnology, linguistics and sociology. Contributions by Maximilan Jablonowski (Zürich), Klaas Voss (Hamburg) and Michael Galbas (Konstanz) demonstrated the rich multi-aspect format of the debate. This interdisciplinary approach is confronted with a certain disinterest by politicians and media and a single issue attentiveness, when a family or a particular group is confronted with a veteran’s fate.

Sidekick: Two days after the conference, I presented some of my research on veterans to faculty from U.S. community colleges (GCA 6 Meeting in Potsdam, Germany)[1]. 80% (!) of the participants (N=50) have relatives or close friends who are veterans!

Germany seems to be behind the state of the art in research on returnees and veterans. The reasons are certainly to be found in the post WWII past of the German perception of war and peace, and the difficulties to discuss military traditions after the Bundeswehr has been established in a wider context (even bigger problems appeared with the GDR’s National People’s Army). But the recourse to the past will not suffice in understanding a certain mixture of apprehension and disinterest by the German politicians, media and broader public when it comes to veterans. This is a problem of the present self-perception of the German society. One example can be regarded as typical: The perception of veterans is closely linked to the perception of legitimacy of a respective intervention or deployment. The person is incorporated into political opinion, while elsewhere, the care for and empathy with veterans is frequently detached from the judgment on legitimacy and adequacy of a military intervention. This makes it also difficult to get a differentiated discourse on war and peace inside the peace camp. The contextualization of the veterans‘ interpretation of their personal and institutional experience in war is still a wide field for science and public discourse.

The conference will be a step towards a network of researchers and practitioners. We shall try to publish a selection of contributions to the conference, and we will try to attract the interest and awareness of a broader academic and social communities, also in order to give the returnees their voice.

Acknowledgements: the conference was well organized with the support of quite a few collaborators from the CCS and the Universities of Marburg and Berlin. The location in the brand new building of the German Language Atlas was splendid. The Conference was supported by the Heinrich Böll Foundation (Hessia) and the Catholic Military Mission (Berlin).

 

[1] Information : info@GlobalCitizenshipAlliance.org; http://globalcitizenshipalliance.org/calendar/faculty-administrators/

A E I O U

Austria erit in orbe ultimo – Bis zuletzt wird Österreich auf dem Erdball bestehen. AEIOU – vokal- und anspielungsreich ist dieses Land, hunderte Variationen beginnen mit „Allen Ernstes ist Oesterreich u…“, meistens „un….“. Nicht lustig, nicht einmal für Patrioten.

Jetzt haben wir (Österreicher) endlich einen guten Bundespräsidenten, Alexander van der Bellen, der muss optimistisch in die Wahlwiederholung gehen. Die Nazis haben erfolgreich die Wahl angefochten, mit guten juristischen Gründen, die sie aber schon vor der letzten Stichwahl hätten vorbringen können; aber da hatte ihr Kandidat Hofer, der weichgespülte Nazi, noch aussichtsreich vorn gelegen. Jetzt ist Hofer, als einer der drei Nationalratspräsidenten, interimistisch schon Präsident.

Zu meiner Begrifflichkeit für FPÖ und Hofer: Ich habe mich in meinem Blog mehrfach mit dem Nazi/Faschismusbegriff auseinandergesetzt. Ich verwende ihn ziemlich unemotional, sozusagen immer an der Schwelle zum Wahrheitsbeweis. Wenn ich die FPÖ nazistisch und Hofer einen weichgespülten Nazi nenne, dann sind mir Unterschiede in der Erscheinungsform gegenüber der Zwischenkriegszeit vor 1933 bzw. 1938 schon klar. Aber es geht hier um die Rhetorik, die diskursiven Strategien dieser Leute – und da reicht der Begriff national-populistisch nicht aus, weil es in dessen Feld auch etliche unerfreuliche Typen gibt, die nun mit Nazis nichts zu tun haben.

Natürlich lässt er sein Amt nicht ruhen; natürlich hetzen er und seine Gesinnungsgenossen weiter und natürlich gibt ihm der Brexit Aufwind.

Österreich wird seine Diktaturen nicht los, die Krukenkreuzler (Austrofaschisten) und die Hakenkreuzler (Nazis), und gerade weil sich eine knappe Mehrheit nach 1945 doch demokratisch hat weiter entwickelt, ist die hinterhältige Wut der alten neuen Nazis verständlich (das sind keine Neofaschisten, die suchen keinen autoritären Staat, sie suchen eine Identität, die sie in Österreich ethnisch schwer begründen können, deshalb konstruieren sie umso unverhohlener – weitgehend mit den alten Mitteln).

Aber Österreich hat eine Art von Resilienz entwickelt, ich würde gern sagen, immer schon, aber das war ein anderes Österreich gleichen Namens, vor 1918, vor 1945; aber der Widerstand ist sprachmächtiger – im Vergleich – als er in Deutschland war, weil er durchschaut, welches Danaergeschenk die Alliierten dem Land gemacht hatten, als sie es 1943 zum „ersten Opfer“ der Nazis erklärten.

Warum rege ich mich so auf? Es kann ja wieder noch einmal gut gehen? Die beiden großen Volksparteien (dass ich nicht lache: Kräwägerln sind die, schaffen noch nicht einmal eine Wahlempfehlung für VDB, man könnt es ja einmal mit der FPÖ versuchen, denkt da manch einer), die beiden Volksparteien also sind schwindsüchtig unerheblich, lass sie regieren, herrschen tun längst andere. Bin ich doch ein Patriot? Nein, aber ein Österreicher, dem das Haben keiner nationalen, schon gar ethnischen Identität den Vorsprung eines Kosmopolitismus verschafft hat, auf den sich ein Teil des guten Lebens aufbauen lässt, in Wien oder Berlin. Natürlich rege ich mich auf, auch weil die Rechten in Österreich sich nicht anders aufführen als die Orbans, Kaczinskys, Zemans, Ficos…und kommen sie doch irgendwie aus der gleichen Ursuppe, aus der auch Österreich kommt.

Lest, Leute, lest, lest Karl Kraus, Joseph Roth, Bernhard, Jelinek, Menasse, lest auch, was uns 1968 in Deutschland gefehlt hat. Lest Freud und Bachmann. Auch damit unterstützt man einen, der selbst anständig widerständig ist.

Entwurzelung

Die Kommentare nach dem Brexit überschlagen sich. Mein hier immer wieder vorgebrachtes Lob des Feuilletons gerät ins Schlingern, und meine Verwunderung über die Schwäche der Politikseiten in den Medien fühlt sich bestätigt. Das Schwanken zwischen „Es muss etwas geschehen“ und „Kannst eh nix machen“ – sonst nur ein österreichischer Wahrspruch – ist zum Habitus geworden. Analyse braucht nicht nur Zeit, sondern auch Gedanken. Es hat den Anschein, als wäre eine gewisse Amnesie eingebrochen in die Denkmuster.

Und jetzt mische ich mich auch noch ein. Aus einer gewissen erzwungenen äußeren Gelassenheit, die daher rührt, dass ich mir ziemlich viel an den Reaktionen erklären kann, aber die Politik nicht so recht verstehen will im Rahmen der politisch korrekten Rationalität, der Vernünftigkeit, nach der alle rufen.

Ich nehme eine Antinomie heraus, eine von großer Tragweite. Alle anti-europäischen Ressentiments und lokalen Politiken richten sich gegen die Eliten, die kritischen Intellektuellen, das „Establishment“. Als Ausgangshypothese ein Stück weit tragfähig. Wer trägt diese Politiken? Das Volk, der Souverän, der nicht genügend von den Herrschenden (? Wer herrscht) beachtet, respektiert fühlt, wählt rechts. Die Eliten sind aber alles andere als links. Und schlimmer noch in den Augen des entrechteten Souveräns: sie beanspruchen nicht nur die Deutungshoheit, sie üben sich auch als Protektoren der Abgehängten; prekären. Dieses Muster ist plausibel, aber mehr auch nicht.

Ein Exkurs: das oft anrührende, sehr aufrichtige Buch von Didier Éribon „Rückkehr nach Reims“ (Suhrkamp 2016) nehme ich zur Hand, um ein Gefühl, ein Sentiment, wachsen zu sehen, das ich auch kenne, aber anders deute: „So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest zum Teil als eine Art politischer Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jednefalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten“. (S.124).

Sehr ausführlich beschreibt der schwule Wissenschaftler Éribon, der aus einer „echten“ Fabrikarbeiterfamilie stammt (*1953), wie der Verlust des Klassenbewusstseins diese Umorientierung bewirkt hatte. Da er aber ziemlich ausführlich und stimmig die Kommunisten als Sammlungsort dieses Bewusstseins kritisiert, ist der Schwenk nicht einfach mit Individualisierung oder dem Gefühl des Verrats zu erklären. Es muss eine Verbindungslinie zwischen den klassenkampf-Rhetoren der Kommunisten und dem anti-kommunistischen rassistischen Front National geben. Aber nicht, was milde Ausgleicher denken: es ist halt doch recht = links und umgekehrt; viel wahrscheinlicher ist, dass die Habitus der Organisation von Klasseninteressen (Arbeiter und nachfolgende Lohnabhängige) und von Herrschaftsanspruch (völkische Suprematie) verwandt sind. Für die Arbeiter ging es wirklich um Teilhabe und dem Aufstieg von der Einzimmerwohnung zur Vierzimmerwohnung und Urlaub; das kann mehr oder weniger demokratisch, partizipativ etc. geschehen sein, solange es ein einigendes Motiv gab. Solche Arbeiter gibt’s halt nicht mehr, und die „Lohnabhängigen“ fassen das Problem nur teilweise. Vor allem sind die Umverteilungskämpfe oft nicht „politisch“. Bei den „Rechten“ geht es um Anerkennung, Teil – untergeordneter Teil – einer alternativen, aber dann alternativlosen Herrschaft zu sein. Stichwort: Partei statt repräsentative Demokratie. Um das Volk hinter sich zu bringen, muss die völkische Bewegung nur echte Probleme in solche Themen einpacken, für die die bürgerlich-sozialdemokratische größte Koalition der Konsensdemokratie keine Lösungen (Probleme) oder keine diskursive Strategie hat (Ängste der Bürger, Stimmungsdemokratie, aber auch Lobby- und Korruption auf höchster statt durchschnittlicher Ebene).

Éribon habe ich zitiert, weil er noch etwas Heikles thematisiert: als Schwuler in schwierigerer Zeit hat er sich auf die Emanzipation der Minderheit wissenschaftlich konzentriert und dabei die Klassengeschichte, auch seine eigene, entpolitisiert. Nicht sein selbstkritischer Aspekt interessiert mich, sondern die implizite These, dass die neue Ungleichheitsdebatte die alten Klassenantagonismen nicht ersetzen kann, und dass es eine Entwurzelung der Nicht-Eliten gibt, die mit dem Schrumpfen des Mittelstands, dem Zentrum der bürgerlichen Klasse – Citoyen UND Bourgeois – sich an formale Kollektive, mit deren einzeln „Programmen“ sie nicht übereinstimmen mussten/müssen eher wenden als an die formal „zuständigen“ Parteien. Es gibt durchaus einige Kommentare, die das aufgreifen. Aber es wäre sinnvoll, diese Analysen zu verfeinern, und vor allem die Ungleichheitsdebatte viel stärker auf die Habitusdifferenzen als nur auf die wiederkehrende Kapitalismuskritik zu konzentrieren.

Wir, ich und meinesgleichen, haben nicht Éribons Klassenhintergrund, wir mussten die Distanz zum imaginären Proletariat nie überwinden, darum konnten wir uns von ihm ebenso imaginäre adoptieren lassen. An uns hat die neue Rechte auch weniger Interesse, sie adoptiert die allein gelassenen Überreste anderer Klassen. Übertragen wir Bourdieus Begriff des Deracinement, der Entwurzelung, differenziert auf heute, dann können wir vielleicht besser erklären, warum der Kampf gegen das Establishment ein so wirkungsvolles Motiv ist, sich einer Bewegung anzuschließen, die alle Türen abschließt.

Ich kann eine Figur gut nachvollziehen: wir haben 1968 uns der Arbeiterklasse angemutet, weil wir eine Vorstellung von ihr hatten, die schon den Keim einer Konsenspolitik (ob Ergebnis von Revolution oder irgendeiner Volksfront) in sich trug. Uns hat es wenig gekostet, uns im Feld der Deutungshoheit und der intellektuellen Eliten festzusetzen. Keine Selbstbezichtigung, weil eben dies ja auch viel verändert hat: Schulen, Strafrecht, Ökologie. Keine Zufriedenheit, weil nicht hingeschaut haben, wie diskriminiert Wurzelnde entwurzelt wurden.

Kein Respekt

Keine Wut hochkommen lassen, keine Trauer oder Ohnmacht. Schimpfen fällt jetzt so leicht wie die Aggression gegen die, die bisher entgegen allen Einsichten und Signalen, nichts oder das Falsche gemacht haben; da ist viel Autoaggression dabei, und Selbstkritik nur auf der Ebene, wo es Institutionen trifft, also die Personen nicht direkt angreift.

Ich hatte mit dem Brexit gerechnet, seit langem. Dass er so vergleichsweise knapp gekommen ist, hat mich dann doch überrascht. Bei den Reaktionen gestern (24.6.) hat mich einiges gewundert. Viele Politiker erklärten beflissen, sie respektierten das Ergebnis. Da begann ich zornig zu werden. Wenn man gesagt hätte: wir akzeptieren, dass die Mehrheit so abgestimmt hat, dann ist das eine von jedem Wunschdenken entkleidete Kenntnisnahme. Aber Respekt…? Wen denn, was denn respektieren?

Eine klare Verhöhnung von Demokratie, über etwas abstimmen zu lassen, was so gar nicht geht. Einen Premier respektieren, der ohne Not eine Volksentscheidung aus Wahltaktik inszeniert hat und in seiner Erbärmlichkeit noch eine gute Nachrede sucht, wir sollten respektieren, dass er auf der „richtigen“ Seite gewesen sei? Eine grobe Verletzung der Gewaltenteilung respektieren? Dummheit und Verführbarkeit respektieren? Den Protest der Überreste von Arbeiterklasse – frustrierte Labour-Wähler, Kleinbürger – respektieren, weil sie gegen die Empfehlungen der Wirtschaft gestimmt haben, habituell, nicht reflektiert als Bestandteil von dem, was heute Klassenauseinandersetzung sein könnte? Respekt vor der Illusion, den Kadaver eines Empire durch ein winziges Mehr an Souveränität zu beleben – Zombie-England, noch mehr Pudel der USA, noch weniger politisch und kulturell ansprechbar? In diesem Respekt würde sich auch die Entschuldigung für unseren Beitrag zu diesem Referendum abbilden. Aber zu dieser Revision der Griechenland-Politik, der ökonomischen Schlagseite, der Unfähigkeit die Grenzenlosigkeit zu verteidigen, unsere regierungsamtlich abgesegnete Angst vor dem Terrorismus zu Lasten unserer Freiheiten, all das soll nicht zählen? Respekt füe Jugend, die Städte, die in Europa noch eine Hoffnung sehen und deshalb ja auch an der EU etwas ändern können. Aber keinen Respekt vor einem Ergebnis, das keines ist, schon gar kein demokratisches.

Nein, kein Respekt. Schon heulen die Rechtsradikalen und Nationalisten. Kaczinsky wettert gegen ein föderales Europa, er, in dessen Land kein neuer Stein ohne den Regionalfonds der EU gesetzt wird. Putin labt sich an einer selbstinduzierten Verwirrung. Gabriel kann Englisch („Damn“), wie sein Twitter belegt… Ich muss an mich halten, um nicht in ein Gegenschimpfen einzustimmen.

Analysieren wird weiter notwendig sein, aber es wurde ja schon lange vor dem 23.6. damit begonnen. Wenn wir eine so genannte Wertegemeinschaft sind, dann hat das etwas mit Europa zu tun, aber nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt mit der EU. Europa, das meint einen gesellschaftlichen Verbund, der irgendwann ein Bundesstaat, eine europäische Republik (Ulrike Guerot) werden kann, aber jedenfalls kein Staatenbund allein, ohne diese Perspektive. Vergemeinschaftete Werte, internalisierte Werte, sind nur gesellschaftsbindend, wenn sie die Kommunikation, das Aushandeln, die republikanische Option über jedem Nationalismus, ernst nehmen.

Merkel hat richtig daran erinnert, dass Europa ein Friedensprojekt war und ist, sofern die EU diesem Projekt seine politische Gestalt gibt. Frieden ist das Produkt von ständiger, nimmer ruhender Konfliktregulierung, nicht von Nichtangriffspakten und Toleranz der Mächtigen gegenüber den weniger Mächtigen. Die EU ist im besten Fall das Ergebnis einer dürren, aber nicht dürftigen politisch-ökonomischen Einsicht: Konfliktregulierung ohne wirtschaftliche Regulierung kann nicht funktionieren. Frieden kann sich nicht in Kulturfestivals und Freundschaftsbekundungen vor Fahnenstangen erschöpfen. Er muss damit beginnen, immer wieder dynamisiert, dass die Konflikte benannt und verstanden werden – und es ist immer Keim der Gewalt darin, dass man Angst respektiert, die selbst den Konflikt schürt.

Kleiner Einschub: Oft werden Werte mit Tugenden verwechselt. Ein Beispiel – Transparenz in allen öffentlichen Agenden ist ein Wert; Solidarität ist eine Tugend, die ohne die politischen Rahmenbedingungen jenseits der Individualität nicht praktizierbar ist. (Ich weiß, werte Ethik-Kolleg*innen, das ist kein philosophisch haltbares Beispiel, es entstammt der Praxis-Betrachtung eines Kommentators). Ja, wir sollen tugendhaft im politischen Feld und jenseits der Privatheit handeln, aber Werte…?

Zurück zum Brexit: Souveränität des Nationalstaats ist jedenfalls kein Wert mehr. Die Bauernfänger Farage, von Storch, Orban und wie sie alle heißen, bemühen einen Popanz, von dem es nur eine unscharfe Erinnerung im kollektiven Bewusstsein gibt, und eine idealisierte Version im kulturellen Gedächtnis. Wann je im letzten Jahrhundert der Nationalstaat supra-nationale Vereinbarung, Teilung von Souveränität dauerhaft übertroffen? (Vielleicht die Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit, vielleicht kurze Zeit die Briten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs…ich muss keine Vollständigkeit herbeireden). Souveränität hat für die Exkommunisten im neuen, östlichen Teil der EU einen hohen symbolischen Wert, weil es das Gegenteil der Unterwerfung unter den Stalinismus der Sowjetunion andeutet. Dass diese gleiche Souveränität heute eine scharfe Waffe in der Hand von Nazis, Rassisten und Ethnophoben ist, fällt den identitären und völkischen Nationalisten – auch in westlichen EU-Ländern, vielleicht auf, aber sie denken gar darüber nach, dass vielleicht in der Nation mittlerweile die politische Koordinate Rechts-links gar nicht mehr zählt. Sie erfinden das Volk, um völkisch sein zu dürfen. Das aber sind gar nicht die vielen, die sich gegen ihre Repräsentanten auflehnen, frei sein wollen von der regulierten Freiheit, die ihnen die Zukunft verbaut und weitere Hoffnung nimmt, während die Börsen von Zuversicht regiert werden.

Wir aber sollten beginnen, unseren Kosmopolitismus ernst zu nehmen.

Wer ist der Souverän der Weltbürgerschaft? Hier entsteht eine Antinomie. Denn unter dem Imperativ von wirklicher Gleichheit, zumindest vor den Grundgesetzen, sind sie alle Souverän, auch die, die sich kontrafaktisch gegen eben diese Gesetze auflehnen. Die muss man ernst nehmen, nicht ihre Ängste und Befindlichkeiten. Wie geht das? Das ist uns, den Eliten, abhandengekommen. Um es deutlich zu machen, wir haben unsere Mitgliedschaft im Establishment so wenig gewählt wie unsere Zugehörigkeit zu den Eliten, die die Deutungshoheit – mitsamt ihrer Kritik – gepachtet haben; wer hat uns da hin gestellt? Da herrschen keine übermächtigen Gesetze, die uns dahin zwingen, aber im Zweifel nutzen wir guten Gewissens den Freiraum und begründen ihn mit der Möglichkeit zur Kritik der Verhältnisse, an deren anderem Ende der Souverän sich ebenso aufhält, aber den Begriff – die Souveränität, Selbstbestimmung und andere Phantasmen – auf ein Programm reduziert: wie heute Morgen ein ausnahmsweiser, sehr kluger Kommentator sagt: die sind so hoffnungslos unten, dass es ihnen scheinbar nicht schlimmer kommen kann, dann suchen sie Befreiung von der Einsicht in diesen Zustand…Da setzen sich natürlich die Spoiler drauf.

Weltbürgertum erfordert aber jene Gleichheit, die nur im ganz Kleinen oder in der gewalttätigsten Diktatur vorherrschen kann. Für diese Gleichheit taugen die gängigen Staatsmodelle nicht.

Dazu kann ich keine kurzen Anmerkungen schreiben. Aber was den Respekt und die Akzeptanz betrifft: die meisten EU Politiker weit oben üben sich in beschleunigender Akzeptanz, als würden die anstehenden Verhandlungen den Schmerz lindern; noch fühlen sie sich nicht zum Handeln gezwungen. Respekt hingegen sollten wir denen entgegenbringen, die sich in England auflehnen, die die große Petition schreiben und ihre Nicht-Unterwerfung unter eine Mehrheitsmeinung oder –stimmung praktizieren. Im Augenblick scheint es mir auf das „Ganz Kleine“ anzukommen, auf das Denken um handeln zu können.

Und keine Angst: die Engländer kommen zurück.

 

 

Finis Terrae IV

Die Fortsetzung hält sich bei Vorworten auf.

Gibt es aus der Verzweiflung einen Ausweg, der in tätige Hoffnung mündet? Keine Frage für Politikwissenschaftler oder Soziologen, möchte ich meinen, und doch: sie ist unabwendbar. Wenn Aron Bodenheimer über Mozart schreibt, er sei ein trostloser Tröster, geht das in die gleiche Richtung. Er ist so wenig untröstlich, wie es seine Hörer sein sollen, nur man kann auch getröstet werden, weil und wenn der andere keinen Trost hat, trostlos ist. Verzweiflung ist die Sackgasse des sich Einrichtens in der Ausweglosigkeit einer so fremdbestimmten Situation, dass man sie besser erträgt als gegen ihre Windsmühlen und Geisterbahnfiguren zu kämpfen. Das ist leicht getan und noch leichter in der Kulturkritik gesagt. Hermann Hesses Steppenwolf fällt mir ein: : „Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. …“ (Der Steppenwolf, 1931, Fischer, S. 18). Bei Hesse dreht sich dann alles ins Rad des Wiederkehrens ein, und antibürgerlich ist heute noch nicht einmal ein Lockmittel. Sich der Politik, dem öffentlichen Raum zu verweigern, ist kein Widerstand, keine Resilienz, es ist der Ersatz von Handeln durch Meinung und Stimmung. Die Depression ist hier eine politische Pathologie, die in der scheinbaren Ausweglosigkeit so etwas wie das frühneuzeitliche sich Abfinden mit dem Fegefeuer sieht, ein wenig Trost, dass es nicht die Hölle des Kriegs ist.

Zu diesem Trost gehört ein Blick ins Feuilleton. Dort und nicht bei den politischen Nachrichten, findet sich eine Dichte der Reflexion, des Nachdenkens über unseren Zustand, der fälligen Kontroversen, wie sie lange nicht auffällig war. Philosophisch, politisch, alltagsklug – das gehört zum Trost, dem richtigen Text im falschen: denn obwohl die Nahtstellen zur Politik, zur Praxis und den Praktiken, zur „Agency“, wie es neuerdings heißt, deutlich sind, unmissverständliche Aufforderungen – gehe hin, tue desgleichen, oder gehe hin, und lerne – obwohl die Schlüsse darauf hinweisen, wo die Mauern der Sackgasse dünner, permeabler sind, dringt solcherart Überlegung noch nicht einmal in die politischen Spalten der gleichen Sendungen und Zeitungen, selten auch in die Kommentarseiten. Den Trost beständiger machen hieße auch: politischer lesen und hören. Ich beginne Listen anzulegen, was aufbewahrt werden soll, um dieses Lesenlernen zu erleichtern. Auch darin besteht die Verantwortung, sich im Verzweifeln nicht zur Ruhe zu legen. Ach, wir Schildkröten!

Als ich vor 15 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb, eitle Vorsorge für ein bestimmtes politisches Amt, sagte mir ein guter Freund: du weißt, dass du damit auch die Verantwortung für die deutsche Geschichte auf dich nimmst? Ich sagte, das sei mir klar. Ja, aber die Haftung, wo es gar nicht mehr um persönliche Verantwortung geht. Beim armenischen Genozid haften alle Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, nicht schwierig, worin auch immer diese Haftung sich materialisiert. Bei der Shoah scheint die Aufarbeitung der Geschichte hier besser zu gelingen als anderswo, aber die Archive zur Beziehung mit Israel und des Judenmörders Globke (ich nenne ihn so, wer nicht in den Genuss seines Rassekommentars für Mischlinge o.ä. kam, musste umso eher sterben, ich will ihn so nennen), bleiben unzugänglich. Ich hafte, wofür ich schon deshalb nicht verantwortlich bin weil ich dagegen kritisch und mit Verstand ankämpfe: außenpolitische und menschenrechtliche Fehlhaltungen. Aber worin kann sich diese Haftung praktisch ausdrücken – etwa darin, die Geschichte lebendig zu halten, aber ihre Deutungen nicht voluntaristisch dort einzusetzen, wo es angezeigt ist, und sie dort gegen den die Evidenz des Gegenwärtigen einzutauschen, wo man aus lauter Schaum und Versäumnis fast erstickt, nicht handeln kann?

Die Staatsbürgerschaft innerhalb der EU, des staatenbündischen Europa, erschien mir schon damals marginal. Zu Unrecht, wenn wir die heutigen Debatten anschauen. Also ein weiteres Vorwort. Um an die Grenzen der Welt zu gelangen, die uns so deutlich vor Augenstehen, muss man dennoch durch viele Ländern gehen – was manchen lieb wäre: durch viele Nationalstaaten. Halbgebildete mutmaßen über den Sinn von Grenzen und Begrenzungen, sie vermischen so viel es geht, um die Politiker zu verwirren. Eine meine Lieblingsbeschäftigungen ist die begriffliche Auseinanderklauberei: Borders, Boundaries, Delineations, Frontiers…allesamt Grenzen. Welchen Begriff man wählt, verwendet, setzt im Deutschen denn ein wenig mehr „Kontextualisierung“ voraus als im Englischen, so wie bei Liberty und Freedom. Aber hier wird es halt wirklich hart: es geht um Tote, Überlebende, und um das künftige Schicksal derer, die oft aus Zufall nicht tot, ertrunken, gebombt, verblutet oder dem Wahnsinn überantwortet sind: Welchen normativen Rahmen überantworten wir die Kontexte?

Eine mögliche Antwort, die mich sowohl die geforderte Trostlosigkeit annehmen lässt als auch zum politischen Handeln drängt ist eine wichtige Klärung: Themen und Probleme auseinanderhalten; die erwünschte Normalität gegenüber dem perpetuierten Ausnahmezustand vorziehen.

Das Erste erscheint einfach. Aber es ist schwierig z.B. klar zu machen, dass Flüchtlinge keineswegs das Problem sind, sondern ein Thema, das vom Problem abgeleitet wird oder zu ihm führen kann. Das Problem ist die deutsche Außenpolitik, die Legitimation dieser Politik vor der Bevölkerung, aber auch vor den Lobbys, die unsere Regierung teilweise entmachtet haben (Waffen, Wirtschaft, Bündnisse etc.). Das Problem ist auch die EU Integration, deren Schwächen nicht mit dem nachholenden Nationalismus spättotalitärer Regierungsführung zugeklebt werden können. Flüchtlinge sollten schon deshalb kein Problem sein, weil die Probleme, die sie tatsächlich schaffen, unterhalb der Grenze von Herausforderung für unser Gesellschaftssystem liegen. Aber zum Zweiten:  für die Politik erscheint es einfacher, sich Legitimation durch die Ausrufung dauernder Krisen und dauernden Ausnahmezustands zu verschaffen. Das wiederum ist in der Außenpolitik manifest, in anderen Politikbereichen latent, oft nur als Stimmung wahrnehmbar: wenn behauptet wird, dass es Zurück zur Normalität ja wohl nicht gäbe….als ob das jemand wollte. Normalität ist ja nicht nur der durch die Quantifizierung der Welt entstehende Normalismus (wir danken Jürgen Link zu wenig für diese Überlegungen), sondern Normalität sollte ja vor allem die unablässige nachhaltige Dynamik der Konfliktbewältigung sein, also nie eine Wiederherstellung von Vergangenheit und vermuteter Stabilität.

Schon das Einüben dieses Zusammenhangs ist schwierig. Aber genau darin liegt auch die politische Chance des Umkehrens aus der Sackgasse der trostlosen Verzweiflung. Die Ideologisierung der Probleme, die darin besteht, aus Ihnen ein unübersehbare und bedrohliche Flut von Themen zu machen.

Das ist sozusagen ein Einschub, der ein wenig meine Arbeitsweise mir selbst deutlich macht: ich schreibe da nicht einfach als ein grantiger Citoyen und auch nicht als ein entmutigter Humanist, sondern als ein Wissenschaftler, dem seine eigenen Denkweisen angesichts einer von ihm mit verantworteten Wirklichkeit zum Problem geworden ist. Thema: Flüchtlinge, zum Beispiel.

Vor einigen Tagen sprachen Seehofer und andere bayrische Landvögte den Opfern des Hochwassers ihr Beileid und ihre Betroffenheit über 8 Ertrunkene aus. Das ist gut und richtig so, wie denn auch nicht. Am gleichen Tag ertranken 800 Flüchtlinge vor den Küsten der sicheren Herkunftsländer im Maghreb bzw. Libyens. Am gleichen Tag erfahren wir, wie viele der glücklich geretteten und bei uns angekommenen Flüchtlinge ihre Familien erwarten. Sympathie, Mit-Leiden reicht nicht. Können wir uns vorstellen, von einem Unwetter heimgesucht, um Haus und Hof gebracht worden zu sein, auf die Hilfe unserer Dorf- oder Hilfsgemeinschaft angewiesen zu sein? Sicherlich, und hier kann man Vertrauen fast verallgemeinern. Versetzen wir uns in einen der Flüchtlinge auf dem Schlauchboot. Können wir das ohne unseren Wortschatz zu erweitern? Wir können es ohne Sentimentalität. Es geht einfach darum, wie viele Menschenleben weiter bestehen und wie viele nicht. Das hat etwas mit der Politik zu tun, für die wir mit haften, weshalb es für die Sackgasse zu früh ist.

(Finis terrae V folgt, aber vorher eine ausführliche Rede zu Asyl und Ausnahmezustand).

 

Sieg für die AfD?

„AfD-Politikerin sagt Treffen mit Islamvertretern ab: Trotz der Absage von AfD-Vorstandsmitglied Alice Weidel wird das Treffen zwischen Vertretern der Partei und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland wohl stattfinden. Der Zentralrat hält an seiner Einladung fest. Das Landgericht Dresden untersagt dem Politikwissenschaftler Steffen Kailitz, der als Sachverständiger im NPD-Verbotsverfahren aufgetreten war, in der Öffentlichkeit zu sagen, die NPD plane rassistisch motivierte Staatsverbrechen. Der für den Fall zuständige Richter Jens Maier ist AfD-Mitglied. (Meine Hervorhebung) In Erfurt demonstrierte die AfD gegen den geplanten Bau einer Moschee.
sueddeutsche.de (Zentralrat), faz.net (Kailitz), spiegel.de (Erfurt):“ Alles im Tagesspiegel am 19.5.2016.

Die NPD veranlasst einen AfD-Richter, einem Wissenschaftler das Wort zu verbieten.Das Urteil wird keinen Bestand haben, aber es soll einschüchtern, und es wirft ein schlechtes Licht ausgerechnet auf die sächsische Justiz, dass der AfD-Richter den NPD Fall unbefangen aburteilen darf. Allmählich sickert der Skandal ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Die Regierungsparteien mahnen uns neuerdings, mit und über die AfD nicht „Schaum vor dem Mund zu reden“, sondern uns mit ihren Argumenten auseinandersetzen, jetzt, wo sie doch „ein Programm“ haben. Ich habe nie Schaum vor dem Mund, ich spüle meinen Rachen aber auch nicht mit Kreide. Wenn ich als Wissenschaftler jemanden als Nazi bezeichne, dann muss ich das als Wissenschaftler verantworten und belegen, nicht als jüdischer Deutscher. Wenn ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin vor einem Gericht ein Gutachten vorträgt, und sich zum gleichen Sachverhalt seit Jahren öffentlich äussert, danndarf es doch nicht sein, dass ein Richter – selbst in Sachsen – auch nur ein Wort dieses Gutachtens oder der allgemein zugänglichen Aussagen dieses Wissenschaftlers ihm zu verbreiten verbietet, wo doch ohnedies jeder den Text einsehen kann. Was der so genannte Richter Jens Maier gemacht hat, entspricht der Praxis von Diktaturen und autoritären Systemen, das müssen gar keine Nazis oder Stalinisten sein, die Schwelle liegt sehr viel niedriger: Türkei.

Ist es nun ein Sieg der AfD, dass einer ihren solche Unrechtsurteile fällen darf, und es gibt keinen Aufschrei? Nein, denn viele werden wohl zu Recht vermuten, dass dieses Urteil aufgehoben wird und der Richter selbst zur Rechenschaft gezogen wird, wie sich das in einem Rechtsstaat gehört. Ein paar Heuchler beschweren sich, dass die Parteizugehörigkeit des Herrn Maier genannt wird. Wenn ein Grüner oder Schwarzer so ein Urteil gefällt hätte….hat aber keiner. Die Brandstifter geben sich als Biedermänner. Und wie ein AfD-Mitglied da Richter wird, zeigt, wie weit die Sachsen noch zum zum Rechtsstaat haben.

Die böse, pesimistische Stimme sagt: sei dir nicht so sicher…wer weiss, mit welchen Winkelzügen sich der Herr Jens Maier aus der Schlinge zieht.

Was aber den Schaum vor dem Mund betrifft: wenn sich der Nazi Höcke von der AfD gegen die Zeitverschwendung mit dem Parlamentarismus wendet, dann darf man nicht vor Wut rot werden, sondern vor Unsicherheit blass, warum solch einer nicht wenigstens in Untersuchungshaft kommt und eine Anzeige wegen Wiederbetätigung bekommt.

Die böse Stimme flüstert: du bist kein Jurist, die denken anders. Ist das im Land de ehemals schrecklichen Juristen so? Manche sind schreckhaft, einige sind schon wieder schrecklich. Aber die kann unsere Demokratie aushalten (bis auf die Justizopfer, denen muss schnell geholfen werden).

Es gäbe jeden Tag soviel dergleichen, gegen das wir anschreiben und anschreien müssten. Aber die AfD wartet ja nur auf unsere Heiserkeit, sprich: die Gewöhnung an den Widerspruch, der zum Habitus wird, bis man seine Immunität aufheben kann. Zurück zum Anlass: Wissenschaft darf alles sagen, innerhalb der Regeln, die ein Jens Maier, verstünde er sie denn, doch nicht antasten darf. Ähnlich wie Satire, aber manchmal noch mächtiger, wenn auch nicht immer gleich laut. Es geht gerade nicht um Meinungs-Freiheit, sondern darum, dass, was gedacht wird, auch gesagt werden kann, damit es auf Kritik stösst oder Kritik auslöst. Wie es gesagt wird, sollten wir bestimmen, wieder in Grenzen der Regeln, die Wissenschaft vom Gerede und Programm der AfD unterscheiden.

Es ist wissenschaftlich nach allen Regeln der Kunst nicht sehr schwierig nachzuweisen, dass es in der AfD Nazis gibt, auch an führenden Positionen, und festzustellen, dass viele Mitglieder keine Nazis sind, ist wohlfeil. „Nazi“ ist eben kein nicht zu hintergehendes Schimpfwort, sondern eine analysefähige Aussage, deren Beleg man erbringen kann. Wenn sich ein Nazi durch den ihm zugemuteten Begriff Nazi beleidigt fühlt, mag das sein Umfeld beschäftigen, aber nicht die Wissenschaft.

Die folgende Anekdote aus meinem Leben mag hier helfen. In der 3. Klasse des Gymansiusm war auch Sohn des polnischen Botschafters. Wir waren irgendwie nett, aber nicht eng miteinander. Eines Tages wurde meine Mutter mit einem blauen Brief in die Schule zitiert. Erstaunen, ich hatte auch etwas Angst, was war wohl vorgefallen? Ich hätte zu dem Jungen „Bolschewist“ gesagt. Man drohte mir dafür mit Schulverweis. Zu dem es (natürlich?) nicht kam. Wie das in meinen Kopf kam, ihn so zu betiteln, kann ich heute etwas mühsam rekonstruieren – alle Kommunisten sind Bolschewisten, die Polen sind Kommunisten (1959), also…aber was hat er zuhaus erzählt, und warum hat sein Vater mit einer Beschwerde reagiert? Jedenfalls war der Botschafter intermediär beleidigt.

Gerade als ich das schreibe, kommt die Nachricht, dass sich Höcke gegen eine Moschee in erfurt wendet, und dass dort AfD und Pegida zusammengehen. Die Nazis bei den einen und die Nazis bei den andern werden sich freuen.

Zurück zu Feld 1: es ist schon notwendig zu analysieren und zu kennen, was die Nazis, die AfD, Pegida und einzelne ihrer Mitglieder sagen, und zu wissen, wie andere Menschen auf diese Rede reagieren. Aber ich muss es nicht mit den Funktionären diskutieren, allenfalls mit deren Adressaten. Denn das bringt den Aberglauben der Beliebigen ans Licht: das seien doch Menschen wie alle andern auch. Menschen schon, aber eben nicht wie die andern. Es ist nicht alles gleich gültig.