General Verdacht und Oberst von Hinnehmen

Wie von mir erwartet… Immer wieder Polizei, rechte Politik von Seehofer und dem BMI, auch die Wahrheit nützt sich ab, wenn der immer Gleiche immer dasselbe wiederholt. Denkt ihr, vielleicht zu Recht. Aber ich bin kein Masochist, der sich durch diese Endlosschleife auch noch in Depression stürzt. Man kann das selbe Ereignis auch in anderen Kontext bringen. Aber fangen wir traditionell an. „Ein heute 32-Jähriger, der am Steuer eines BMW vor fünf Jahren laut Gutachten mit mindestens Tempo 94 über eine rote Ampel an der Kreuzung Oberbaumbrücke/ Warschauer Straße raste und einen Fußgänger totfuhr, ist gestern vom Amtsgericht Tiergarten zu 120 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt worden. Dasselbe Gericht verurteilte gestern laut RBB auch einen Studenten, der sich bei einer Demo von „Extinction Rebellion“ auf der Marschallbrücke angekettet hatte, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu 90 Tagessätzen. Finde den Fehler“. (Tagesspiegel online 30.9.2020) Kann man den Richter vielleicht an der Warschauer Straße anketten und mit Extinction bedrohen? Ein solcher Richter ist zwar kein Vollstreckungsbeamter, aber dieser hier spielt sich gern als solcher auf.
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Am Bahnsteig eines größeren Bahnhofs in der Nähe Berlin warten vier bewaffnete und gepanzerte PolizistInnen auf einen offenkundigen Schwarzfahrer, der kaum versuchte zu fliehen, da war er schon umzingelt und wurde nach längeren Debatten abgeführt, während der Schaffner hektisch in seinen Handcomputer hackte und mit einigen Minuten Verspätung wieder abfuhr. Ich habs nicht fotografiert, weil ich dann von unserer Polizei sicher auch belangt worden wäre. Ein paar Meter davon in einem öffentlichen Park eine evidente Coronaparty von mindestens 8 jüngeren Menschen. Da traut sich die Polizei nicht hin? Gestern nicht, heute nicht…
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                              Ganz anders

geht es weiter. Ihr könnt meinen Auftakt ja selbst fortsetzen. Ich will auf etwas anderes hinaus. Polizei, Justiz und andere sicherheitsrelevante Institutionen stehen ja nicht erst seit 1968 unter einem Generalverdacht. Dieser Begriff, der jetzt vor allem von denen abgelehnt wird, die ihn mit Verve verwenden, ist in Mode gekommen, mit brisanten Folgerungen. Der GV hat seine Wurzeln in einem falschen Singular (…DER Mensch ist gut/schlecht/dumm/klug etc.) oder in einem falschen Plural (…ALLE Menschen sind gut, alle Polizisten sind rechts, alle Frauen haben Recht, alle Männer haben Unrecht etc.). Die Falschheit kann fatale Folgen haben, oder sie reißt kritisch auf, was sich anders nicht provozieren lässt. Wohlgemerkt: GV ist nicht gleich Verallgemeinerung. Denn wer einen Verdacht hegt, also eine nicht zum Ende gebrachte Vermutung, hat zu wenig Empirie für eine legitime Verallgemeinerung. Das ist ja Seehofers Hauptargument zum Schutz der Polizei, obwohl die Empirie ihm nicht Recht gibt. Aber wirklich kompliziert wird es, wenn es nicht um Sicherheitsorgane, sondern um Sprache, Kunst, Geschichte geht, und die Vergangenheit eine andere Form von GV produziert als die Analyse der Gegenwart. Rassismus und Kolonialismus sind die wichtigsten und weitest verbreiteten Beispiele dafür.

Am Beispiel von Rassismus argumentiert Jen Jessen in der ZEIT (#26, 18.6.2020) zurecht, dass man sich nicht auf den strukturellen Aspekt rausreden darf, der es z.B. weißen Menschen nicht gestattet, sich vorbehaltlos auf die Seite von nicht-weißen Politiken zu stellen, wenn das „als illegitime Anmaßung“ bezeichnet wird. Jessen weist auf ein Problem hin, das oft verkleinert oder nicht wahrgenommen wird: wie sehr die „kritische Durchmusterung unseliger Denktradition (ich sage auch Sprach- und Handlungstradition, MD) gewiss sinnvoll und notwendig (ist) – sie muss sich aber ihres weitgehend universitären (ich sage: gebildeten, MD) Publikums bewusst sein“. Da ist so viel dran, dass man mit dieser Reflexion der AfD und den Rassisten nicht beikommen kann –  Jessen plädiert für robuste Politik, Polizeiarbeit – und eine verstehbare gesellschaftliche Ächtung. Ich pflichte ihm bei-, weil und wenn es sich dabei um legitime Gewaltanwendung handelt. Und darüber muss man auch sprechen, offen. 

In einer bemerkenswerten Erklärung haben viele sonst recht unterschiedliche Intellektuelle sich gegen das Ausspielen von Gerechtigkeit gegen Freiheit gewandt, von Martin Amis bis Michael Walzer, – wenn nämlich erstere an einem „ausgewählten“ Kriterium – Rassismus, Sexualisierung, Kolonialismus, etc… – festgemacht wird und alle anderen Argumente unterordnet. (ZEIT #29, 9.7.2020), weil nämlich diese Auswahl selbst politisch ist (weshalb der Kontext ja verlangt zu sagen „Black lives matter“ und nicht „all lives matter“, während die ethische Grundlage natürlich alle Menschen einschließt).

Ich kann dem allem seit langem folgen, bin vor allem von der Bewegung der Cancel Culture immer negativ gegenüber gestanden – und entdecke doch in vielen Debatten eine – auch in eigenen Beiträgen – eine Angst, besser: eine vorwegnehmende Furcht vor Zensur („Unter Generalverdacht“ SPIEGEL #29/11.7.2020). Da haben wir den GV  wieder, und im Nachgang zu diesem Artikel auch Daniel Kehlmann zu der obigen Erklärung. Also, wir sind nicht wehrlos, aber wir müssen schon bedenken, dass wir für Pluralität und Widerspruch leichter aus unserer „privilegierten“ Position eintreten können wie die Opfer der schwer akzeptablen Wirklichkeit, dass nicht nur Schwule Schwule spielen können, dass nicht nur Schwarze sich zu Rassismus sich äußern können usw. Kurz: wo eine, betont: eine, Identität ins Spiel kommt, ist es schon verloren.

Und davor sind wir nicht gefeit, keine(r/s)  von uns.

  • Darum ist aber der GV so wichtig: er darf nur Bestand haben, solange die Empirie im Kontext schwach ist. Wenn wir die rechten Netzwerke bei Polizei und Justiz wissen, ist GV sittenwidrig. Bis dahin ist er ein Trigger, der die Verhältnisse vielleicht zum Tanzen bringt.
Allein am 30.9./1.10. überschlagen sich die Meldungen, zB. „Polizei-Skandal : Rechtsextreme auch beim NRW-Verfassungsschutz tätig (RP)“, https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/polizei-chat-rassismus-101.html; https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/nrw-rechtextreme-polizei-netzwerk-101.html
  • Der General VERDACHT ist noch immer Vorgesetzter des Obersten von HINNEHMEN. Toleranz können sich immer nur die Mächtigen leisten, und das haben die Rechten in Deutschland stets unterlaufen.
  • Aber man, ich, wir – müssen aufpassen, dass wir nicht mit der Kippfigur arbeiten und die unter GV nehmen, wo wir es besser wissen können: auch das bedeutet: Zensur nicht zu fürchten.
  • Von der sind wir umgeben. Und dass die sozialen Netzwerke nicht dauerhasft zur Demokratie beitragen, war nicht vorgeesehen, aber zu erwarten gewesen.

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