…an uns Bürgerinnen und Bürger, an uns Citoyens, an uns kritische und politische Menschen, an uns, die wir uns nicht in den Kategorien von Establishment oder Elite, aber auch nicht von Abgehängten wiederfinden; sondern vom seltenen Fall politischer und gesellschaftlicher Menschen, die Antworten darauf finden können, wie sie leben wollen, warum sie es nicht hinreichend können, und wie alles zusammenhängt.
? ZU PHILOSOPHISCH ODER RHETORISCH ODER UNSCHARF?
Sicher, aber wie einleiten in eine Gegenwartsdiagnostik, deren Begriffe oft so verwaschen oder abstrakt sind, dass sie nur verwaschenes Bewusstsein anziehen? Ich versuche es anders.
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Die politische Situation ist höchst unangenehm, bedrohlich, voller Gefahren, deren Risiken wir gar nicht kennen. Es ist wie ein Alptraum ohne hinreichende Gewissheit des Erwachens, aber mit der klaren Beobachtung in den Traum hinein.
Frau Merkel empfängt Kurz, ich nenne ihn aus alter Gewohnheit Kurtz (Joseph Conrad, Apokalypse now). Herr Kurz regiert mit Nazis, deutsch-nationalen Burschenschaftlern, einem KZ-Planer (Kikl) und hinreichend vielen Verbrechern. Wie angenehm, aber auch fehlorientiert waren doch die EU Proteste gegen Haider und seine damaligen Nazis. Heute beschwört man Gemeinsamkeiten, die ungefähr so glaubwürdig klingen wie die Beschwörung des olympischen Eides 1936 oder das Gutachten des gekauften Doktors, der Trump für nicht wahnsinnig und nicht krank erklärt. Gleichzeitig macht Gabriel den Türken Hoffnung auf erneute deutsche Touristenmassen, wenn nur der Yücel freikommt (der hat sich schon verwahrt gegen den Tauschhandel). Und wir drehen uns immer schneller, um ja nur alle Gemeinheiten, Irrsinne und Bedrohungen mitzubekommen; wie eine Enzyklopädie der wahrlich zu befürchtenden Ereignisse dreht unser Hirn – und macht schon den ersten Fehler: es simuliert ein Deutschland, das irgendwie „außerhalb“ dieser Bedrohungen ist,, WEIL man hier ja einigermaßen rational beobachten und analysieren kann. Wir sind aber mittendrin und spielen mit. Haben das übrigens seit langem. Zurück zu den nicht so strahlenden Abgründen der Vernunft und der Kritik.
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Heinz Bude, einer der Klügsten und Gewissenhaftesten unserer Zunft, analysiert die deutschen Zustände: Links sein, Rechts sein, Dazwischen sein, ZEIT 16.11.2017). Er dekonstruiert den Dreiklang Familie, Nation und Gott (konservative Grundlage von Gesellschaft) und positioniert die Parteien in einem sozialen Raum dieser drei Dimensionen. Gott fällt dabei sowieso raus. Bude findet, dass die „politische Person von heute“ sich nicht Merkels pragmatisch verbissener und ideologisch offener Politik unterwerfen will, also dem institutionalisierten Relativismus, wählen, also entscheiden will, wie „wir als Gemeinschaft, Staat und Menschheit leben wollen“. Budes Parteienkritik ist plausibel und glaubwürdig, mir geht’s aber um etwas anderes. In Deutschland kann ich an einer Behauptung ausführen, warum die drei Ziele nicht ansatzweise erreicht werden (können), obwohl fast jeder ihnen zustimmen würde, sofern „politische Person“. Ist es trivial zu behaupten, die Lobbys hätten das Regieren längst übernommen, wenn sie nicht nur in den Ministerien sitzen und die Gesetzestexte vorformulieren, sondern die Schlüsselproduzenten des hegemonialen Wohlstands dirigieren. Auto, Chemie, Pharma, Bau und Digitalkonzerne, aber vor allem auch Finanzinvestoren sind keineswegs invisible hands, sondern frech sichtbare Lenker unserer Politiker – aber sie fördern auch unsere Wohlstandsverwahrlosung, aus der heraus uns Kritik an ihnen ebenso erlaubt ist wie das Denken über sie hinaus. Nun sind diese Lobbys nicht der „Trash“ der unpolitischen Abstauber des Systems, sondern die Sprecher für jene Freiheiten, deren Grenze die Unverbindlichkeit ist – als die sich z.B. die Klimaziele der GroKo herausstellen oder die Glyphosat-Entscheidung des so genannten Ministers Müller oder die Abschiebung in den Tod durch den so genannten Minister de Maizière. Wir stehen vor einem Dilemma, das man besser als Ambiguität bezeichnen sollte. Die uns gewährten Freiheiten zur Kritik und zum Durchblick sind eben nicht bloß das Ergebnis der „repressiven Toleranz“, die uns Marcuse 1968 vor Augen führte, sondern tatsächliche Freiheiten, die wir verteidigen und erweitern, jedenfalls beschützen müssen – anders als die Zustände in den Diktaturen, illiberalen Demokratien, autoritären Systemen.
Ein Einschub: ich streite zur Zeit relativ unironisch und heftig innerhalb einer bestimmten Grünen Parteigruppierung, die genau jene repressive Toleranz ausnutzt, um auf den Westen zu schimpfen, und das Loblied Putins, Assads und anderer Unholde singt, weil die vom Westen (=uns, plötzlich kommt da ein Grünes Wir) falsch behandelt worden sind. Es handelt sich ausgerechnet um die mit Frieden befasst Arbeitsgruppe.
Uns wird vielmehr gestattet, Auswege aus der Krise und jedem welt- und lebensbedrohenden Dilemma aufzuzeigen, solange die Konsequenz aus der Antwort, wie wir leben wollen, nicht politisch gefordert oder praktisch wird. Das heißt, dass wir nicht Objekte der fremdbestimmten Toleranz sind, sondern die Grenzen unserer Freiheit so eng stecken, dass man sie uns nicht entgegenbringen muss.
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Das fällt nicht nur mir auf. In vielen Feuilletons und Traktaten wird moniert, man müsse wieder zum Träumen zurückkehren, und vor allem werden diese Träume dann vorschnell mit Utopien gleichgesetzt, also Rückkehr von der Pragmatik zur Utopie. Wenn es so einfach wäre, und wenn zur Utopie immer die politische Praxis vorhanden wäre, sie anzusteuern. Der Traum: Man braucht nur das erlösende Wort aussprechen, und schon beginnen sich die Verhältnisse zu ändern. Mich erinnert das an die endlosen Debatten über den schönen Satz: Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Der Satz von Marx, 1843, (Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) lange vor dem Kommunistischen Manifest, ist so berühmt, dass ich mir heute schon eine Variante erlaube: Muss ja keine Theorie sein, kann ja ein Wort sein, das es nicht zum Begriff bringt, z.B. Frieden, oder Gerechtigkeit o.ä. Aber dann schreibt Marx ein paar Seiten weiter, speziell auf Deutschland gemünzt: Deutschland als der zu einer eigenen Welt konstituierte Mangel der politischen Gegenwart wird die spezifisch deutschen Schranken nicht niederwerfen können, ohne die allgemeine Schranke der politischen Gegenwart niederzuwerfen.
Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehenläßt. Worauf beruht eine teilweise, eine nur politische Revolution? Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse von ihrer besonderen Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z.B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann.
Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist.
Nein, kein Seminar zu Marx, brauchen wir nicht. Aber in diesen gescheiten Sätzen bindet es sich wieder zu Heinz Bude und zur Gegenwart zurück. Bude verlangt zu Recht, dass sich die politische Person am Entwurf des möglichen Lebens (zu Lebzeiten bitte, nicht im Jenseits) orientiere, dahin sich entscheide. Und mit Marx frage ich nun, was uns jetzt so bedroht: die „nicht politische Person“, die sich im Gewande des zu Ende gekommenen Individualismus im amorphen Kollektiv derer befindet, die immer schon den Weg als Ziel empfanden, deshalb kein Ziel haben. Lacht nicht: aber die KlimaZIELE heißen nicht zufällig so…
Weiterer Einschub: in der oben angedeuteten Kontroverse haue ich ziemlich massiv gegen die gesinnungsethische Legitimation der begriffslosen Hoffnungsworte hin, die daran erinnern, dass man doch etwas wollen kann (Frieden) ohne eine Ahnung zu haben, wie man es herstellt. Dabei hätten es gerade die Grünen an der Hand, doch verantwortungsethisch und ohne jedes falsche Pathos sich auch der Menschheit, also der Zukunft praktisch zuzuwenden. Wir wollen eben nicht nur die Politik revolutionieren, sondern auch die anderen Säulen verändern.
Davon jedenfalls ist beim gegenwärtigen Stand der Verhandlungen unserer Lobby-Abkömmlinge nichts zu bemerken. An deren Sondierungsergebnis kann man den Status der unpolitischen Personen ablesen, auf die sich nicht nur die Große Koalition wird stützen müssen. Mittelmaß, Sie erinnern sich…
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Jetzt gehen wir einmal dran, die Politik zu beschreiben, die teilweise und windschief ein paar passende Antworten geben kann auf die Frage, wie wir leben wollen. Das KANN gar kein PROGRAMM werden, weil wir erst einmal diese Frage uns stellen wollen und denen, die gar nicht die Macht haben sie zu stellen. Z.B. den Flüchtlingen, die erst Deutschland erreichen müssen, um diese Frage ernsthaft zu stellen.