Lachen am Abgrund

Für Robert Habeck

 

Die Zeit der Jahresrückblicke ist nicht mehr so hektisch, weil die Medien ohnedies alle Auffälligkeiten in endlosen Schleifen immer wieder aufwärmen, auch, vielleicht, um uns zu immunisieren. Es ist so vieles gleich gültig, dass es gleichgültig wird.  Damit verdrängt man ganz gut die abschüssige Entwicklung des Weltgeschehens. Nicht einmal auf Vulkane ist Verlass, die erodieren jetzt unterwasserig und lösen Beben aus. Der zur Schau getragene Ernst von Petitessen, von Politikern, Pundits, Experten und Stammtischen, ist grausig; man darf, wegen Verrohungsverdachts, nicht „zum Kotzen“ sagen, obwohl Erbrochenes selten roh ist.

Uralt sind die Geschichten der gefallenen Engel, die aus unterschiedlichen Gründen aus den Himmeln entfernt wurden, mal aus Strafe, mal als Prüfung, jedenfalls oft mit Lust oder unergründlichen Folgen für die Menschen verbunden… In den Satanischen Versen oder der Entdeckung des Himmels steht ein solcher Sturz vom Himmel auf die Erde am Anfang, und ich finde ihn eher komisch als pathetisch, und seine tiefere Bedeutung ist auch nicht gerade erhaben. Aber sie ist ein wichtiges Element von Säkularisierung, von der Entzauberung des Göttlichen, seiner konstruierten und unglaubwürdigen Einheit.

Das Komische hat eine provozierende Seite. Wenn‘s bergab geht, dann macht die Vorstellung aus dem Fall eine Zeitspanne der Reflexion des unwiderruflich vergangenen Lebens, oder wenigstens der gerade geschehenen Ereignisse, und dann träumt man sozusagen hellwach die unumkehrbare Wirklichkeit dessen, was man nicht mehr korrigieren kann, und von dem man weiß, dass man es sofort wird vergessen müssen, mit allem andern.

Im Vergleich dazu sind die Jahresrückblicke lächerlich, nicht komisch. Was ist ein versäumtes Jahr gegen den Klimawandel im Vergleich zu den Eskapaden der High Society, was ist die Kriegsvorbereitung der Big Three gegen das Zündeln am rechten Rand der europäischen Demokratien, was sind die kriminellen Autovorstände gegen das Problem der Verkehrsattacken unserer Städte, und was sind Datenlecks und Datenschutz im Vergleich zum Überwachungswahnsinn immer weniger kontrollierter Gesellschaften?

Diese Vergleiche nennt man im Volksmund Kabarett.

In schrecklicher Umgebung, Sterbensgefahr, Not, auch auswegloser, erscheint die Satire profilierter und wirksamer als in satten Stunden. Die nur scheinbar makabren Hinweise auf Kabarett und Liebe (ausweglos, fast immer nur augenblicklich gestundet) im KZ, der Schwank im Schützengraben, die Witze um die Henkersmahlzeit, und das Wortspiel, wenn die Lawine schon anrollt…all das gehört zum Lebenswillen und nicht zum Sterbenswunsch, zur Gebürtlichkeit (Hannah Arendt) und nicht zum „Tod“, von dem wir im Leben umgeben sind.

Jahresrückblicke und vergleichbare Retrospektiven haben immer auch die Todeswunsch-Perspektive.  Was war, kommt nicht wieder, und nicht das Ereignis soll unvergessen bleiben, sondern seine Unwiederbringlichkeit. Was noch kommen wird, ist etwas anderes, und jedenfalls auf dem Zeitstrahl immer minus dessen, was da retrospektiert wird. Ich lese diese Rückschau dennoch mittel-intensiv, um etwas über ihre Verfasser zu erfahren und aus der Auswahl etwas über Zeitgeist mit meiner eigenen Sicht zu vergleichen.  Ja, warum soll ich mich angesichts des globalen Massensterbens, Hungerns, Erstickens  für das interessieren, was grad in den letzten 12 Monaten passiert ist? (Es gibt andere, historisch besser kalibrierte Vergleiche, die Zeit vor oder um meine Geburt, die Zeit, in der ich mich verändert habe oder mir andere wichtige Menschen. Beispiel: wenn heute,  nur weil es 50 Jahre sind, ausführlichst über 1968 reflektiert wird, dann kommt es sehr darauf an, ob das wie eine Goldene Hochzeit nichts über die Qualität der Ehe aussagt, oder ob ein Ereignis, für mich Prag im August 1968, sich auf mein Leben und Denken nachhaltig ausgewirkt, so nachhaltig, dass dieses Datum in das engrammatrische Kalenderblatt eingetragen wird). Bilanzieren hat etwas mit dem Sterbenswunsch zu tun… (Tut man so, als könnte man aus der jüngsten Geschichte lernen?). Es gibt da eine Variante, die wenige ao aufschlussreich machen, und die hat einen gewissen Charme: Binäre Prognostik, best and worst case in 50 Jahren. („Die Welt in fünfzig Jahren“ Dossier, 27.12.2018, 15ff..)

Auffällig ist: die worst cases (Alles wird schlecht) sind präzise und geben im Subtext Phantasien wieder, die in  weiten Teilen den tatsächlichen Gefahren, Risiken und der passiven Kommentierung der schuldhaft von “Anderen“ betriebenen Welt- und Gesellschaftsvernichtung entsprechen. Die Strukturen sind durch das Ende von Demokratie oder der EU gekennzeichnet. Auch Überalterung und Arbeitslosigkeit werden projiziert.  Nichts neues. Die best cases (Alles wird gut) sind keine Hoffnungen, sondern das Regierungsprogramm beliebiger Kombinationen von Governance-Akteuren. Die Redaktion hat das selbst festgestellt.

Mich haben drei Beiträge wirklich interessiert. Die Nazi-Sprecherin Beatrice von Storch repliziert nur das bestehende AfD-Programm, als käme es nicht darauf an, wie der Weg dahin sein könnte, wäre diese Partei an der Macht („Die AfD hat schon vor Jahren einen Kanzler gestellt“). Wäre nicht interessant, würde nicht Sarah Wagenknecht vom plebejischen „Aufstehen“ analog aufgestellt  und würde sie damit nicht der Hufeisenhypothese vom Schulterschluss links- und rechtsextremer Ideologien Nahrung geben: Kapitalismus ohne Demokratie und rechtlose Arbeiter, ungezügelte Vermögensbildung und ein hohler Staat.  Oder aber: „Unternehmen gehören denen, die für sie arbeiten“; endlich keine materiellen Werte, sondern soziale (da ist Gleichheit einfacher…). Und natürlich wenden sich freie Menschen freiwillig von facebook und google ab, die braucht man dann nicht mehr. Freiheit verbindet sie mit der Storch’schen Vision (bitte, an alle, redet nicht von „Utopie“, die ist komplexer). Und umso mehr freut mich Robert Habeck: Alles wird gut ist auch nicht gut. Die Klimakatastrophe wird so gebremst, dass weiter gewirtschaftet werden kann und sozialer Ausgleich geschaffen wird. Auch hier ein starker Sozialstaat, aber alles im Rahmen sehr viel beschränkterer Bewegungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft. Alles wird dann möglich, wenn Ökologie nicht in falscher Abhängigkeit von der Ökonomie stagniert, dieses „Alles“  wird aber nicht illusionär an ideologischen Leitbildern orientiert. So kann es gehen. Und alles wird schlecht: Menschen in einer zeitlich unbestimmten, aber bereits manifesten Endzeit, nicht nur ohne Vögel und blauem Himmel, sondern in weiten unbewohnbaren Gefilden, mit künstlicher Ernährung – und an den Außengrenzen der lebbaren Gebiete setzt das große Töten ein. So mag es kommen.

Warum nur einer sich von den rhetorischen Floskeln verabschiedet, die der Todessehnsucht nostalgischer Rückblicke eingeschrieben ist? Ich möchte sagen: weil er ein großartiger Grüner ist. Aber sehen wir es umgekehrt: am ehesten können wir Grünen im Verein mit anderen Demokraten den Klimasturz bremsen und unser Leben „einteilen“, ohne neue Ungerechtigkeiten zu schaffen oder sie ausufern zu lassen, und dann hat Habeck ja das wesentliche beschrieben.

*

Die Engel stürzen auf die Erde. Im Mythos zeugen sie mit den menschlichen Frauen boshafte Riesen, die dann weiter ihr legendäres Unwesen treiben. Auch in andern Mythen wird die Mischung aus dem Unsterblichen mit dem Sterblichen nicht wirklich positiv, wenn auch manchmal poetisch. Wenn niemand mehr lebt, kann man die unsterbliche Materie auch nicht mehr bedichten und besingen. Das bleibt unseren Zeiten vorbehalten, und es ist Zeit heißt niemals, dass es zu spät ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

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