„Jeder hat das Recht auf seine Identität“
„Jede hat das Recht auf ihre Identität“
„Alle haben das Recht auf ihre IdentitätEN“
So schallt es allerorten aus den politischen Debatten. Identität, das aktuelle I-Wort, nach F-Frieden, E-Emanzipation, A-Abgehängt oder A-Angst, früher K-Klassenkampf. I ist ein so genanntes Wieselwort: je näher man ihm kommt, desto schneller wieselt es einem davon, so wie à Klingsors Säule und andere Fata morganas. Gut für populäre Reden. (Wenn man die „Identitären“ dekonstruieren soll, wird es schwierig für uns, was bedeutet I. für sie, und was kritisieren wir daran? In der Psychologie kann ich mit diesem Begriff etwas anfangen, in der politischen und kulturellen Sozialwissenschaft wenig (das macht mich nicht gleich zum Außenseiter, aber es fällt auf). In Deutschland „ringen“ politische Parteien um ihre I. Die SPD ringt sich nach links, die CDU ringt sich nach rechts, für die Grünen bleibt die ökologische Mitte und für die FDP die marktliberale Mitte. Die Linkspartei sucht noch, und die AfD ist mit sich selbst weitgehend identisch, Nazis vor 1933 vergleichbar. In der Alltagssprache und in vielen Diskursen bedeutet identisch eher authentisch (damit könnten wir mehr anfangen).
- Hast du denn keine Identität? Ungefähr so klug wie
- Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Ungefähr so klug wie
- Wir sind alle eins (oder: du bist nichts, dein Volk ist alles)[1]
Philosophische und psychologische Erörterungen von I sind sinnvoll und interessant, aber das Wort ist nicht Begriff für die Gesellschaft geworden, es wohnt unter uns als Ideologie und Gebrauchswort für eine Vielzahl von Zwecken, sehr beliebig einsetzbar.
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Nicht nur bei uns in Deutschland. Überall in Europa, überall auf der Welt. Identitäts-Politik ist ein eigenes Feld. Mark Lilla – ein später Vertreter der kritischen Theorie in den USA – untersucht die französische Rechte anhand von Maréchal, der Enkelin des alten Le Pen. Neben vielen Aspekten, die wir kennen, ist einiges überdeutlich und neu: die Stärke des seit Jahren eher marginalisierten retro-Katholizismus in Frankreich, ideologisch gegen den so solide geglaubten Säkularismus (ich sehe hier Houellebecq und die Unterwerfung im Hintergrund, der ist kein Katholik, aber solide retro und nicht einfach „konservativ“). Und Lilla zeigt, wie anders diese Rechten sind als die gewohnten faschistischen Erinnerungen, etwa wenn sie in Frankreich durchaus ökologisch argumentieren und durchaus säkular und ohne kohärente Ideologie. Hier ist die Differenz zu den USA mit den Klimaleugnern und dem nationalistischen Programm deutlich. Maréchal versus Bannon, aber beide treten parallel auf. Mir geht es dabei um einen Aspekt, der in der Identitätspolitik eine Rolle spielt: Die neuen Systemkritiker zerlegen das Rechts-Links-Spektrum gründlich: Sie sind gegen die EU, gegen die Homo-Ehe, gegen die Einwanderung. Aber sie sind auch gegen finanzmarktliche Globalisierung, gegen die neoliberale Austerität, gegen Genmanipulation, Konsumismus und AGFAM (Apple-Google-Facebook-Amazon-Microsoft). Sie sind xenophob, antisemitisch, Und sie berufen sich plötzlich (?) auf Orwell, Simone Weil, Heidegger Proudhon, Arendt und den jungen Marx, für uns weniger bekannt auch auf MacIntyre und Lasch[2] (Aufklärungskritik auf relativ hohem Niveau). Wie stark hier auch Antonio Gramsci einvernommen wird, überrascht vielleicht weniger. Ich möchte für meine I-Geschichte auf zwei Aspekte hinweisen: zum einen gibt es gegen die neuen reaktionären Kräfte keine linken Antworten, weil sie selbst Methoden und Argumente der Mainstreamlinken vereinnahmen (siehe weiter unten); zum andern gewinnen sie ihre Identität nicht aus der Utopie oder einem konkreten Zukunftsprogramm, sondern aus der Zuflucht zu einer Ableugnung aller Errungenschaften der Aufklärung und des Liberalismus.
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Meine Intuition hat mich von Anfang an gegen Mélenchon auf der extremen Linken und später gegen die Gelbwesten misstrauisch sein lassen: sie beide sind, wie große Teile der FPÖ und der Identitären, gegen das „System“, und weil sie kein neues anbieten, müssen sie Zuflucht in der Ideologie geronnenen Vergangenheit, bzw. ihrer Abstraktion finden, nicht ohne allerdings aktuelle und nachvollziehbare Kritik an den Erscheinungen des Systems zu üben.
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Dass vieles auch, oder über die Linie Bannon, auf Trump anwendbar ist, liegt auf der Hand, selbst der Antisemitismus, der bei den Trumpisten so ausgeprägt ist wie früher in vielen Bereichen des White America (ich verbiete mir auch hier „White Trash“ zu sagen, weil sich der Antisemitismus ja bis in die oberste Schicht der WASPS festsetzt, und Trash ist niemand, kein Mensch).
Das hat eine Facette, die sich seit langem abzeichnet, auch bei uns, überall, so auch in der Schweiz: Autor: Klaus Walter : Rechte Ideen, linke Gesten – Was früher Punk war, ist heute Alt-Right[3] Samstag, 16.02.2019, 09:16 Uhr. „Punk war stets der Stinkefinger ins Gesicht des Establishments. Dessen Codes übernimmt heute die Neue Rechte“.
Das ist eine gut recherchierte Sendung über die amerikanische (und globale?) Jugendkultur, die den Aufstand der „Jugend“ (Konstruktion)gegen das „System“ (Konstruktion) mit linken Methoden (empirisch, aber weder links erfunden noch bewahrt) gut beschreibt. Kennen wir das nicht, auch beim deutschen Reichsrock aller Varianten und bei der anscheinend harmlosen Heimatmusik des Widerstands gegen den Mainstream?
Mit Gramsci setzen sich diese neuen Bewegungen nicht mehr über politische Ökonomie allein in Szene, sondern über Kultur, Medien und die Besetzung des öffentlichen Diskurses. Alles ist erlaubt, solange nicht das befreite, emanzipierte Individuuum seine Bindungen selbst wählt, sondern diese Vereinzelung zugunsten einer imaginären Gemeinschaft aufgibt. Imaginär – weil sie gar keine Zukunft hat und will, sondern auf Vergangenes, Verlorenes, Wiederzugewinnendes verweist.
Dazu passen zwei Auseinandersetzungen zur Identität, besprochen von Stephen Holmes[4]. Francis Fukuyama, den wir vom Ende der Geschichte kennen, der aber nicht so dumm ist, wie er vor zwanzig Jahren den Linken erschein musste, hat ein Buch geschrieben: Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. (Farrar, Straus and Giroux, 2018). An einer für Holmes und uns signifikanten Stelle schreibt er der Linken die Schuld am Aufstieg der Rechten zu, u.a. aus der Furcht vor Statusverlust der weißen Mittelschicht, mit der Ursache im linken Multikulturalismus. Diese linke I-Politik hat den Aufstieg der Rechten und Trumps überhaupt erst ermöglicht. Das Körnchen Wahrheit ist, dass es auch linke I-Politik wirklich gab und gibt, der grobe Unsinn der These ist, dass sich die gerade in Multikulti ausdrückt. Wenn schon, dann ist der Fehler linker I-Politik vor allem in der endlosen Differenzierung gesellschaftlicher Kohäsion, bis man beim unteilbaren Individuum ankommt, und selbst das hat mehrere Identitäten. Das Gegenbild zu Fukuyama zeichnet Kwame Anthony Appiah. The Lies That Bind: Rethinking Identity: Creed, Country, Class, Culture (Liveright 2018). Holmes präpariert daraus die Notwendigkeit des Kosmopolitismus. Ich will nur auf einen Punkt heraus: Holmes sagt zu Recht, dass die kosmopolitische Identität von Appiah natürlich auch eine ist, wenn er andere kritisiert oder ablehnt; sie ist das Produkt seiner Lebenswirklichkeit, nicht deren Voraussetzung. Da gibt es noch mehr zu sagen, mir genügt hier die rezensierte Differenz zwischen den beiden Denkern, weil sie die amerikanische und unsere Wirklichkeit ganz gut einklammern, und mit Lillas Diagnose durchaus (unterschiedlich und kontrovers) harmonieren.
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Identität…mir scheint, hier wird ein Fluchtpunkt aus der rationalen politischen Öffentlichkeit gesucht, I. wird ja gesucht, man „hat“ sie nicht, und auch wenn es „mehrere I.“ sind, werden sie aufgesucht, nicht in einem selbst gefunden; I. existiert gesellschaftlich nur in Abgrenzung von anderen oder in der Einvernahme von anderen. Die Rhetorik der I-Diskurse sagt das natürlich anders. Aber bedenkt, was es bedeuten könnte eine kosmopolitische Identität anzustreben. Als Weltbürger*in müsste ich mit einer konsistenten Identität über all „ich selbst“ sein, und kann es doch nicht, wenn ich die Welt der vielen Orte, Zeitzonen und vor allem Menschen ernst nehme und nicht nur als Staffage des in sich selbst ruhenden Selbst.
Vielleicht ist alles viel einfacher: Identität eignet sich hervorragend, als Wort nicht hinterfragt zu werden, kein Begriff zu werden, also gesellschaftlich und kritisch den Stall der subjektiven Meinung zu verlassen und die Grenze zur individuellen, persönlichen Psyche dauernd taktisch zu verletzen. Allerdings mit Folgen: denn von der ideologisch vereinnahmten Identität. Der völkischen, der abendländischen, der sozialistischen, der religiösen ist es nur ein Schritt zur Opferung demokratischer und republikanischer Grundsätze im Namen jener kollektiven Identität, die schon gerechtfertigt wird, wenn sie nur angesprochen wird, weil es sie angeblich „gibt“.
[1] Mark Lilla: Two Roads for the New French Right. NYRB 20.12.2018
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Alasdair_MacIntyre; https://de.wikipedia.org/wiki/Christopher_Lasch
[3] https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/rechte-ideen-linke-gesten-was-frueher-punk-war-ist-heute-alt-right (Schweizer Rundfunk),
[4] Stephen Holmes: The Identity Illusion. NYRB, 17.1.2019, 44ff.