Im Vorwahlkampf. Anliegen an die Lokalität – es geht ja um die Stadt, um die unmittelbare Umgebung, lebensweltliches Mikromundus. Lauter kluge, umsetzbare, leistbare Vorschläge, nichts Verstiegenes. Das Problem, das mich während einiger Diskussionen beschlichen hat, war die unglaubliche Kleinheit der Probleme. Ob man Straßen einseitig von parkenden Autos befreit, um dort Radwege neu zu ziehen. Ob man Garagen durch Sozialwohnungen ersetzen soll. Ob man Hundesauslaufflächen einrichten soll.
Auch Wahlkampf. Engagierte Diskussion um die Kontroverse zwischen Integrationsklassen und Förderklassen. Sachkundig, betroffen und nicht betroffen, pädagogisch versus sozial versus migrationsbezogen.
In welch gutem Land leben wir? Und was sind Probleme?
Es gibt die Vorstellung, dass die Lösung von Problemen auf der untersten Ebene der Lebenswelt zur Ausbildung einer Problemlösungskompetenz auf höheren Ebenen bis hin zur Globalität dient. Es gibt auch die Vorstellung, dass die Probleme auf der lebensweltlichen Ebene mit den großen, strukturellen Problemen nichts zu tun haben. Theorie?
Nach den beiden Veranstaltungen, die in freundlichem Konsens und einer gewissen Varianz von Auffassungen abliefen, war ich unvermittelt fast fassungslos.
Ihr kennt aus einem früheren Blog den Spruch meiner Tante: „Deine Sorgen möchte ich haben, und das Geld von Rothschild“. Problemgeneration auf hohem Niveau, wenn das Niveau unser Lebensstandard ist und die Muße, solche Probleme diskursiv hervorzuholen und sie zu politisieren und sie zu lösen.
Mir fällt bei diesen Diskussionen immer das Quantenmechanik-Bild auf. Probleme in einem Zustand sind ganz anders als die im anderen Zustand, und die Sprünge erklären sich den Beteiligten selten. Das hohe ökonomische Niveau, auf dem Kritik, Klage und Politik im Kleinen angesiedelt ist, hat wenig mit den angesagten Problemen zu tun, die allerdings auf niedrigem wirtschaftlichen Niveau oder unter der Knute der Religion für die Menschen viel schmerzhafter sind als bei uns: hier nämlich ist es zwar ärgerlich, wenn ein wichtiges Problem nicht gelöst wird, aber es ändert an unserem Leben so gut wie nichts. Umgekehrt kann in globalen Dimensionen ein Problem – Zugang zu einer bestimmten Ressource, muss nicht gleich Wasser sein, alles ändern, kann Flucht bedeuten oder Kommunikationslosigkeit oder unbeachtetes Ende individueller Leben.
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Wie ich zu diesen fast banalen Gedankengängen komme? Immer wenn wir vor Ort die Probleme vor Ort diskutieren, sitzen die großen Strukturen wie Wolken oder Vogelschwärme über uns (ich merke das nicht allein, aber besonders ausgeprägt), und ich frage mich, wie diese Strukturen von Macht und Gewalt durch ihre Globalität ganz anders wirken als die unmittelbare Herrschaft (der Begriff war einmal auf Faschismus verengt, meint aber einfach die Vertikale der Macht, sofern ausgeübt oder schon hingenommen). Die Mühe der „Ableitung“ wird nicht belohnt, weil die Lösung zeitnah ansteht und vor allem einfacher formulierbar ist als die Ableitung. Umgekehrt ist es noch schwieriger, aus unseren lebensweltlichen Beobachtungen und Schlussfolgerungen vermittelbare Aussagen darüber zu machen, wie wir denn in der großen Politik uns positionieren sollen. Nebbich.
Reduzieren Sie endlich die Komplexität, raten genervt die, die ohnehin alles wissen.
Ich kann den letzten Absatz auch anders schreiben, und dann wird ein Schuh daraus. Wenn wir vor Ort die Probleme vor Ort diskutieren, dann schwingt die große Ebene der globalen Zusammenhänge immer mit, man kann sie sozusagen fast sehen, aber da ist nichts mit Ableitung, mit alles-hängt-mit-allem-zusammen, da sind die Beziehungen, um derentwillen wir einen Verstand haben. Die Einsichten sind in beide Richtungen oft schmerzhaft: was das persönliche, individuelle Leben in der Gruppe und allein betrifft, gilt das Ändern des Lebensstils eben nicht aus moralischen Gründen, sondern viel einfacher aus den pragmatischen des Überlebens, und zwar für alle: deshalb Politik auf der unmittelbaren unteren Ebene. (Über Mülltrennen kann man auch nur beschränkt spotten, über das Beenden von Binnenflügen, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Ende der hohen Transaktionskosten bei Lebensmitteln, nachhaltigem Bauen etc. eher nicht. Aber das neue Problem ist ein echtes: was macht dieses geänderte Leben mit uns? Alle Heilsversprechen sind vor-empirisch, meist esoterisch oder eben trivial). Und wenn wir ernsthaft über große politische und ökonomische Probleme, über Krieg, Kriegsgefahr und eben „finis terrae“ nachdenken und sprechen, dann kann es ohne das antizipierte, vorher gewusste Schicksal des vorzeitigen Sterbens von lauter einzelnen Menschen nicht abgehen. Aber mit diesem Gedanken ist schwer zu leben. Er selbst ist nicht komplex, da gibt es wenig zu reduzieren.
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Was macht das geänderte, ungewiss sich darstellende Leben mit uns? Hier können wir entweder die Ri8sikotheorien oder die philosophischen Rahmenratgeber oder aber die Überraschungspsychologie wirken lassen – oder handeln, wie wir meinen aufgrund unserer Einsichten handeln zu müssen, also Politik zu machen, uns zu befreien von jenem schrecklichen „Man“ , das uns akzeptabel macht. Nirgendwo wird die Angst vor Bedeutungsverlust deutlicher als dort, wo man nicht hoffen kann, aus der Außenseiterposition auf die helle Bühne zu kommen. Das eben wäre die Überwindung der charismatischen Politik.
So gesehen, sind die Diskussionen auf der Ebene der lokalen Lebenswelt, mit ihren ungeschriebenen informellen Grenzen, ihren Nachbarschaften, Freundschaften, Aversionen usw. doch ein guter Rahmen, sich auch den großen Themen zu widmen und darin die Probleme zu erkennen, mit denen wir vor Ort umgehen müssen.
Für mich – jetzt einmal wirklich nur für mich – heißt das, im Wahlkampf kein lokales Kiezthema nur darauf anzuwenden, wo der Fahrradstreifen hinkommt, sondern die Vertikale der Macht zu umgehen und die großen Probleme um die Ecke, hier, thematisch werden zulassen. Mühsam, das glaube ich mir selber.