Finis terrae XXXVI, 1. Teil: die unvollendete Demokratie und das deutsche Auto

Die Wirklichkeit ist nicht mehr als großer Bissen zu schlucken. Im Prolog zu diesem Abschnitt von Finis terrae habe ich versucht, an kleinen Zeichen für einen epochalen Irrsinn den Geschmack am Nachdenken über Widerstand und Hoffnung zu beleben: Ausdörrende Demokratie als Entwicklung, und Befehlsnotstand als individuelle und kollektive Entschuldigung. 

Ich fange wieder klein an: am 29.4. hat die unverschämte Präsidentin der Autolobby, Hildegard Müller, Staatshilfen (=Euer Geld, liebe Leserinnen und Leser) für ihre Branche zu fordern, und zwar auch für Diesel und Benziner, UND sie hat das Recht der Aktionäre auf Dividende bekräftigt; mit Argumenten, die jedem Börsenspekulanten eine Erektion im Portemonnaie verursachen müssten…

Dass Müller das so unverblümt und rhetorisch unaufgeregt kann, zeigt, wie weit sich bestimmte kapitalistische Rhizome (Wurzelgeflechte) schon als Ring um den Hals der Regierung und des Parlaments gelegt haben. Wenn man ihre Biographie verfolgt, dann scheint sie eher das Musterbeispiel vielfältig engagierter politischer Menschen in der Demokratie zu sein – von Unicef bis Konrad-Adenauer-Stiftung, als eine knallharte Lobbyistin. Dass sie das aber dennoch ist, zeigt, wie die bloße antikapitalistische Rhetorik der Kapitalismuskritiker zu kurz greift.

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Die Endzeit, finis terrae, ist auch dadurch gekennzeichnet, dass die Herrschenden und ihr Trabantengürtel eine Normalität der Systemlogik vorgaukeln, die den fortgesetzten Ausnahmezustand zudecken (Man sieht nicht, dass der Kaiser keine Kleider hat, und man versteht nicht, warum die Wirtschaft mit Kaufprämien für neue Autos nicht wieder anlaufen soll, es geht ja nicht um Autos (nein?), sondern um Arbeitsplätze. Die Logik: wenn beinahe alle tot sind, muss es noch Totengräber geben, damit die Toten ordentlich begraben werden.

Nein, ich hetze jetzt nicht gegen Autos generell. Sie sind sozusagen ein Symptom für vieles.

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Wenn die Recht haben, die jetzt sagen, nach CoVid wird alles anders sein als vorher, sollen sie ihren Spruch ernst nehmen. Dass die Generation unserer Kinder wahrscheinlich, die unserer Enkel sicher schlechter leben werden als wir, stand schon vor Ausbruch des Virus fest. Die politische Ökonomie sowohl der Globalisierung als auch der Naturzerstörung bringt dies notwendig und fast „alternativlos“ mit sich. Fast. Sonst könnte ich mir diesen Blog auch sparen. Und essen gehen. 

Dass die Demokratien zerbrechen, und nicht nur in Polen und Ungarn, sondern weltweit Faschismen blühen, hängt auch damit zusammen, dass in vielen Ländern die Menschen einem Führer mehr Macht anvertrauen als ihrem eigenen Denkvermögen. Dass ein Teil dieser Diktatoren anscheinend demokratisch gewählt wurden, ist keine Ausrede, sondern Kritik an der jeweils und immer unvollendeten Demokratie. Dass der Widerstand sich fast fanatisch auf Nebenwidersprüche konzentriert, ist ein Zeichen für diese Unvollkommenheit. Und die ist eben notwendig, um sie weiterentwickeln zu können. Dynamische Diktaturen und Despotien gibt es kaum. 

Dass die Kritik an der Politik jetzt, mit CoVid „zunehmend giftiger“ würde (Giovanni di Lorenzo,  ZEIT 30.4.20), ist Unsinn: seit Jahren wird verkündet, dass und wie der Diskurs „verroht“. Daran ist nur richtig, dass die Verrohung zirkulär erfolgt, bestimmtes immer wieder kommt, immer weniger verkleidet wird – und es gehört zum Populismus, das hervorzuheben, worin die Politik nie eindeutig und schuldfrei handeln kann. Gehört Verrohung, Entzivilisation auch zur unvollendeten Demokratie? Nein, natürlich nicht. Aber Verfeinerung auch nicht. Angesichts des drohenden klimatisch bedingten Untergangs der Zivilisation sind zwei Dinge besonders wichtig: die Evolution wieder anzutreiben dadurch, dass die Menschen wirklich wissen, was ihnen, also unseren Nachkommen droht – und dass uns nichts mehr bedroht außer vielleicht ein  Virus oder ein Erdbeben. Das bedeutet tatsächlich eschatologische Bildung und Erziehung. Und zweitens das Ablegen jener Haltung, die meint, dass wir vor dem unausweichlichen Schicksal alle gleich seien. Das stimmt nur für die Klimakatastrophe, aber nicht fürs Virus, nicht für den Krieg, und nicht für die Lebensumstände, für unsere und die der kommenden Generationen. Die derzeitige Demokratie wird das nirgendwo stemmen, sie muss nicht nur in Brasilien und  Indien weiterentwickelt werden, auch bei uns.

Für die Autolobby und die Möbelhäuser und die Fußballmillionäre etc. sind die sozialen Schranken vielleicht jetzt schärfer konturiert als früher, und da sind die einen im Schatten und die andern im Licht. Wenn das bis zum Weltuntergang so bleibt, schadet das Öffnen der Kirchen und Moscheen für die gläubige Ansteckung an unscharfen Erwartungen auch nicht. Dazu demnächst mehr.

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