Situation

Ich hatte mit dem Titel immer Probleme: Die geistige Situation der Zeit. Jaspers‘ noch rechtzeitig 1933 erschienene 5. Auflage, klein und in Leinen gebunden, vor mir, heute nicht leichter zu lesen als vor vierzig Jahren. Was ist eine geistige Situation? Fragte ich mich, bevor ich mich an Inhalt machte. Bis heute schwierig. Aber Gegenwartsanalysen, wie wir sie heute betreiben, sind auch nicht einfacher.

Ich habe mir Titel & Buch hergenommen,  weil die letzten 24 Stunden Nachrichten schon eine Herausforderung an das Durchdenken einer Situation bedeuten, in der jedes Reduzieren von Komplexität fast ein Verrat an der Wirklichkeit wäre – was kann ich denn ablegen, um es „später“ wieder aufzugreifen?

In vielen Fällen bedeutet „später“ zu spät. Hier sind die Zeiträume variabel, aber man kann es deutlich machen: für das Klima und damit das Überleben haben wir noch 10, vielleicht 15 Jahre zu handeln; für den EU Haushalt haben wir noch 24 Stunden; für harte Sanktionen gegen die Klerikofaschisten in Polen und die Faschisten in Ungarn haben wir eigentlich gar keine Zeit, aber viel Aufwand für die unmittelbaren Folgen; für das sofortige Beenden der Coronaparties – überall im Land – haben wir keine Zeit, müssen aber über legitime Gewaltanwendung bei ihrer Beendigung nachdenken; gleichzeitig müssen wir uns fragen, welche Teile unserer Sicherheitsorgane dazu legitimiert wären und wie wir Bürgerwehren unter allen Umständen verhindern müssen. Ich höre die Außenpolitik im Deutschlandfunk, und denke, was eigentlich den zerrfallenden republikanischen Rechtsstaat der USA noch vor dem way of no return in die Autokratie abhält; zugleich sehe ich eine Situation, die mir so klar auch nicht war in letzter Zeit, das Gewitter ist langsam heraufgezogen. Wir können uns nicht kritisch genug mit dem Vorrang der Wirtschaftsbeziehungen vor den Menschenrechten mit China, Russland, und allen möglichen anderen Partnern winden; wir können auch nicht kritisch genug mit den USA und ihren hörigen Kollegen aus den östlichen NATO-Ländern auseinandersetzen und mit dem Einfluss der Autokratien auf die OSCE und und und…

Das alles ein Vormittag im Deutschlandfunk und ein Durchlesen der letzten Ausgabe der New York Review of Books. Das alles jeden Tag ergibt eine Situation.

Man kann…

Man kann sich recht spontanen Zukunftsvision hingeben, z.B. bei Matthias Horx & Familienkonzern: https://www.horx.com/

Man kann sich der Abschichtungsmethode hingeben, d.h. mit jedem zu lösenden Teilproblem hoffen, dass man nicht alle und schon gar nicht die großen Probleme selbst noch erleben wird.

Man kann sich dem pessimistischen Hedonismus hingeben und am Rand des Weltuntergangs die letzten Gläser der guten Jahrgänge zum knapp gewordenen Kaviar aufnehmen.

Man kann hoffen, dass ein bisher noch nicht angebeteter Gott hilft (die bisherigen helfen jedenfalls nicht) oder man kann Erlösung aus der Verschwörung erhoffen (indem man gegen die Juden oder die Baha’i oder …hetzt)

Usw.

Man kann aber auch sich der Vergewaltigung durch ein Übermaß an Realität entziehen. Ist ja alles richtig, was ich da oben geschrieben haben und jeder Leserin fällt dazu noch etwas ein. Wenn ich mich entziehe, bedeutet es nur, dass die Inventur des Schreckens keine Problemlösungen und keine Konfliktregelungen in sich birgt.

Wenn ich von den Abstraktionen „Der Mensch“ und „ich“ abstrahiere, kann ich mich der Politik zuwenden und postulieren, dass das richtige Politik ist, die in dem Netzwerk des Schreckens mit jeder Handlung das Verhältnis der wichtigsten Akteure und Situationen verändert (Marx sagt so schön „zum Tanzen bringt“, dazu muss man aber die Richtung kennen). Hier könnte ich jetzt viele Beispiele der politischen Philosophie anführen, will ich aber nicht: es ist doch auch so einsehbar, dass Maßnahmen zur Klimapolitik die Regierungspolitik vieler Länder beeinflusst, reversibel oder unwiderruflich; es ist auch so beweisbar, dass Maßnahmen gegen Korruption in einem EU Land, sich auf die vergleichbaren Tatbestände in anderen auswirken; es ist wenigstens begründbar, dass wir dazu das Forum der „unbedingten“ Öffentlichkeit suchen müssen (und es nicht gleich Arena nennen), damit sich unsere Widerständigkeit ablesen und erkennen lässt. Das kann individuell oder für ganze Gruppen üble Folgen haben, Verfolgung, Justiz, Ächtung. Auch für mich, für dich, Leserin und Leser. Mit politischer Korrektheit kommt man nicht weiter, aber mit dem Sagen, was ist. (Damit ist es nicht genug: à Parrhesia (Foucault u.a. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit:). Da reicht es nicht, zu jeder der beschriebenen oder erlebten Katastrophen eine Meinung zu haben, da muss schon Denken Politik werden (und damit die Kritik der Politik einbeziehen). Schwierig? Ja.

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Es hängt nicht alles mit allem zusammen. Aber was zusammenhängt, etwa im obigen Katalog, können wir in Bewegung bringen.

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Jaspers arbeitet sich an all dem ab, in einem knappen Büchlein behandelt er die Situation als Wunderkammer und unsere Geistigkeit als selbstverantworteten Museumsführer durch die Existenz. Wir können ihn übersetzen, müssen wir aber nicht. Aber da stehen auch ganz zeitgenössische Sätze:

„Die Konstruktion der geistigen Situation der Gegenwart, welche nicht in die runde Gestalt eines geschaffenen Bildes vom Sein verfallen will, wird sich nicht schließen“ (S.24)

Heute kann ich Jaspers, wo ich ihn verstehe, gut lesen. Er hilft dort, wo wir in der Situation, in der Wirklichkeit, Gefahr laufen, etwas zu übersehen, und sei es, um uns selbst zu schützen.

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