Am 14.1.2023 schreibt Carolin Emcke einen Kommentar in der SZ, der an die Bachmann und an Elias Canetti erinnert: Die Meute, es geht um die Nachsylvestertumultohysterie. Ich hätte diesen Text gern vor meinen Blog gesetzt, jetzt könnt ihr ihn nachlesen.
Kann es in diesen Tagen Alltag geben, soll es ihn geben, und wenn ja, wie können wir alltäglich leben, umgeben von den Schrecken und Ungewissheiten jeden Tages? Eine uralte Frage, immer wieder auch wissenschaftlich untersucht: Normalität versus Ausnahmezustand.
Ihr kennt mein wichtigtes Gedicht, begleitet mich seit Jahrzehnten, jeden Tag, von Ingeborg Bachmann:
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Diese Begleitung kann über literaturwissenschaftliche, philosophische und biographische Deutungen hinausgehen, sie muss es, weil sie ja den Alltag, meinen Alltag begleitet, und dann mich fragen lässt, wer der Feind ist, welche Geheimnisse unwürdig sind, wer mir keine Befehle geben darf. Und natürlich, was daraus folgt, wenn ich mich an diese Leitlinie des Alltags halte.
*
Zum Alltag gehört, etwas über sich selbst zu wissen, d.h. aus der eigenen Lebensgeschichte auch zu präparieren, was normal und was Ausnahme ist. Beispiel: Wir SIND IM KRIEG, es wird nur HIER nicht mit den Kriegswaffen gekämpft, sondern DORT, in der von Russland bedrohten Ukraine. Aber natürlich sind wir wirtschaftlich, sozial, kulturell an diesem Krieg beteiligt. Das berechtigt schon bei sich selbst nachzufragen, ob man denn die Ursachen teilweise selbst erlebt hat. Was haben wir, was habe ich damit zu tun? Und ich kann mich nicht auf die Kommentare als Beobachter hinausreden, denn ob ich jetzt das Geschehen kommentiere, ändert wohl herzlich wenig. Aber was kann ich denn dann der Politik, der Öffentlichkeit sagen?
Dass Meinungen zu wenig sind, um wirksam zu agieren. Dass Lektionen des Gedächtnis vielleicht mehr an Politik schaffen.
Heute erfahre ich, dass der letzte König von Griechenland, Konstantin, mit 81 im Exil verstorben ist. Mein letztes Erlebnis als Pfadfinder war das 21. Welt Jamboree 1963 in Marathon, 1.-11. August 1963, Griechenland. Konstantin, damals Kronprinz, war Schirmherr. Und täglich vor Ort. Der Alltag der Pfadfinder hatte sich schon damals erschöpft, und heute dominiert ihre kritische, postkoloniale Geschichte, nicht so sehr ihr praktischer Alltag. Um damals nach Marathon zu kommen, musste ich mit dem Zug und den Mitscouts durch Jugoslawien, durch Skopje, am Tag nach dem großen Erdbeben fahren. Jahre später habe ich die ganze Geschichte der Stadt und des Erdbebens gelernt, damals war der Eindruck flüchtig, bedrückend, nicht normal. Das Jamboree war aber normal, Marathon als Ort sagte uns nichts, weil wir die Historisierung des Ortes und seine nationale Symbolik nicht verstanden. Von 1967 bis 1984 war Griechenland eine Militärdiktatur. Die hatte sich schon abgezeichnet. Als ich dann während dieser Zeit dort war, habe ich den Alltag und den Ausnahmezustand besser verstanden, und auch da stellte sich schon die Frage, die heute aktuell ist: unter welchen Umständen kann man in einer Diktatur Urlaub machen, und wann auf keinen Fall? Die Erinnerung kann näher an die Wahrheit gebracht werden als das aktuelle gegenwärtige Erleben, aber das prägt auch. Und muss mit dem Erinnerten in Beziehung gebracht werden, so wie damalige Beziehungen ein anderes Licht bekommen.
Mehr noch stimmt das für Skopje. Da war ich oft während meiner hochrangigen Zeit im Kosovo 1970-1973, dienstlich und privat. Und habe die autoritäre Gegenwart mit den Erinnerungen an 1963 vor Ort verbunden, es gab und gibt Geschichtspfade. Skopje hat meine Arbeit im Kosovo und die Nacharbeitung politischer und kultureller Art beeinflusst, und das hat 1963 begonnen, als wir durstig aus dem Zugfenster auf Getränke gewartet haben, und dass der Zug endlich weiterfährt.
Ich denke, wir müssen immer beides verbinden: unseren Alltag und den der uns in engeren und weiteren Kreisen umgebenden Wirklichkeit, diesen Alltag erst einordnen lässt. Nicht nur Urlaubsorte, nicht nur Ökobedenken gegen Kreuzfahrten, nicht nur selbstkritische Fragen an die Freizeit, in gewissem Sinn geht es um alles, d.h. das, was für unseren Alltag herausgefiltert ankommt in unserem Bewusstsein. Manches rumort schon im Augenblick in unserem Unterbewusstsein, anderes noch gar nicht. Noch.