Afghanistan wirklich gesehen

Die Fähigkeit der Invasoren, Glück zu verheißen und es letztlich zu zerstören, ist unermesslich. Das eint die „Großen“, auch wenn sie sonst unvergleichlich sind. Manche Länder sind besonders von der Unglückspolitik betroffen, andere vielleicht weniger. Aber es bleibt dabei: wer den andern überfällt und ihm dabei Glück verheißt, schafft Unglück.

Kaum ein Land ist so lange unglücklich gemacht worden, wie Afghanistan. Seit mehr als 50 Jahren haben sich „Andere“ darum bemüht, das bislang nie kolonisierte Land unter Kontrolle und vor allem in ihren Machtbereich zu zerren, was jeweils innenpolitisch so nie gesagt werden durfte oder, bei uns, wirkungslos behauptet wurde.

Dass man den jeweiligen Invasoren immer wieder, teilweise, kritisch, mulmig, oder aber hoffnungsfroh gefolgt ist, hat viele Gründe. Auch ich muss mit Bedauern meine anfänglich recht einseitige auch aktive unkritische Unterstützung der westlichen Staatsbildungspolitik Afghanistans nach der Petersberger Konferenz 2001 relativieren. Ich war nicht wichtig, also bleibt es fast überall beim einseitigen, selbstkritischen Diskurs, und wo es praktisch war und wurde, war es auch besser. Aber in der Retrospektive, nach der Niederlage der USA und damit auch Deutschlands 2021, ist die zwanzigjährige Verheißung von Glück und die Herstellung von Unglück schon eine Belastung. Die Zeit davor war das auch, nicht nur bis zur Niederlage der Sowjets und Russen, auch die Zeit dazwischen. Drei Generationen, mindestens, und wenn es noch Hoffnung gibt, dann ist die so komplex begründet, dass keine Erwartung sie trifft: dass Afghanistan sich von den Taliban befreit und den Versuch erneuert, ohne zu verhungern und zu verblöden, eine tragfähige demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen.

Woher kann man das wissen? Erfahrungen haben eher ein zwiespältiges Resultat gebracht, wie man in einem Archiv gut belegt nachvollziehen kann. Man muss erst einmal die Phantasien, Lügen oder schlicht Unwirklichkeiten vieler Selbstbezüge abbauen, um zu verstehen, was wirklich geschah und wer woran beteiligt war. Forschungen sind, wenn es sie gibt, oft besser, aber spärlich, und auch hier muss die Quellenlage studiert werden, sonst wäre die Sicht z.B. der Bundeswehr und der humanitären Hilfsorganisationen vordergründig unverständlich.

Diese Einleitung ist mir so wichtig wie die folgende Besprechung des Buches eines guten Bekannten, der den schmalen Pfad geht, die Wirklichkeit über die konstruierten Wahrheiten zu setzen.: Reuter, Christoph (2023): „Wir waren glücklich hier“. Afghanistan nach dem Sieg der Taliban. – Ein Roadtrip. DVA/Spiegel, München

Da schreibt einer, der schon viele Konflikte und Krisenherde bereist hat, der viel wahrgenommen hat und gegen die Lüge über das Beobachtete anschreibt. Das heißt zunächst anschaut, erklärt, vor allem die Hintergründe ermittelt.

Warum muss man in Deutschland viel über Afghanistan wissen? Weil wir schon vor 2001, vor der Bonner Konferenz, in diesem Land involviert waren, wenn man so will, seit über 100 Jahren, und jedenfalls immer „Rollen“ gespielt haben, die weniger mit den Menschen in Afghanistan zu tun hatten und mehr mit der (vermeintlichen, angestrebten) deutschen Rolle in der Internationalen Politik.  Auch ein Thema. Aber seit 2001/2 waren wir ja Kriegsteilnehmer, mehr noch als davor im Kosovo, und das Verhalten 2021, beim Sieg der Taliban und im Vorfeld des Ereignisses, wirft ein grelles Licht auf die deutsche Politik, mit all ihren Lichtpunkten in der Zeit, die ja auch dazugehören.

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Reuter, erfahren, ein Kenner des Landes, nutzt den äußeren Frieden – ja, Frieden – unter den neuen Herrschern, um Routen und Orte kennenzulernen, die ihm vorher verwehrt oder schwer zugänglich waren. Dass der Frieden keine Freiheit in einem Unrechtsstaat bedeutet, weiß er auch. Und wie es sich bei einem Roadtrip gehört, beschreibt er mit journalistischer und fast ethnologischer Präzision, was ihm dabei begegnet und widerfahren ist. Kaum jemand interessiert sich für das Leben der Gesellschaft nach dem Abzug der meisten Deutschen und dem Verbleib vieler Ortskräfte, die ihrem Schicksal rechts- und moralwidrig überlassen werden. Die Geschichte ist mit den parlamentarischen Untersuchungen und der Enquete nicht beendet, aber die meisten Medien haben Afghanistan längst vergessen. Und wie kaum ein anderer lenkt Reuter unseren Blick auf die Wirklichkeit unter den Taliban und die Vorgeschichte von deren zweiten Sieg, nach dem ersten 1995 -2001, ohne den wir vielleicht gar nicht an der neuen Republik mitgewirkt haben. Der historische Teil, immer wieder aufgerufen, das ist ja kein Geschichtsbuch, bringt einige schwer erträgliche Wahrheiten: Im 2. Kapitel „Ins Herz des Wahnsinns – meine erste Reise nach Afghanistan“ werden die Folgen amerikanischer Lügen, Verschleierungen und absurder Gewalt gegen die Bevölkerung beschrieben. Gebündelte Wirklichkeit: „Dass die USA die Welt nach ihrem Willen formen konnten hatten die Taliban schmerzhaft gelernt in jenen mörderischen Wochen Ende 2001…Dass aber die USA nun in gleicher Manier, nur ohne wirkliche Antagonisten fortfuhren, sollte zum Auftakt ihres Untergangs fast zwei Jahrzehnte später werden“ (S. 43). Diese These habe ich spät, aber schon früher geteilt (Daxner 2017), und Reuters Detailkenntnis stützt die Vorwegnahme der amerikanischen, westlichen, internationalen Niederlage.

Historische Einblendungen kommen auf dem Roadtrip immer wieder vor. Sie sind verbunden mit früheren Reisen, Begegnungen, persönlichen und politischen Wahrnehmungen. Es ist geradezu befreiend zu lesen, dass bei detaillierten Schilderungen der Erfahrungsschichten in Kunduz die Geschichte des unsinnigen Verhaltens der Bundeswehr unter Oberst Klein, der dafür zum General befördert worden war, genau geschildert wurde. Das humanitäre Ansinnen von Reuter und seinem Fotografen Mettelsiefen hat zur Wahrheit der Beschreibung und zur Anteilnahme am Tod von über 90 Menschen geführt. Die Ausstellung an verschiedenen Orten, auch Potsdam, war ein Teil der Befreiung durch die Wirklichkeit vor der staatlich verordneten Wahrheit, also der Lüge über den Vorfall am 4.9.2009 und seine Vor- und Nachgeschichte(n) (Mettelsiefen 2010, Reuter 2010). (S. 181ff.). Das wird nun in eine Geschichte der Wiederkehr eingebettet, sie „suchten nach den Spuren der Deutschen“, S. 187). Der Roadtrip kann ohne die Schnittpunkte zur Geschichte und den relevanten Ereignissen, wenn es sich um bekanntes oder Neuland handelt, nicht gefahren werden. Und jetzt war Reuter da und berichtet über das deutsche „Intermezzo“, „Nun lag die Stadt abermals da wie vor den dramatischen 80 Jahren zwischen Glorie und Grauen“ (S.198). Vieles trifft sich mit anderen Erzählungen von Kunduz, Reuter erwähnt Schir Chan Nashir, und Nadia Nashir, die vor wenigen Tagen gestorben ist, hat von ihrer lokalen Geschichte und von ihren Schulprojekten dort berichtet (Vgl. Nadia Nashir Karim, Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023). Reuter benutzt jeden erlebten Aufenthaltsort zum Anlass einer Geschichtserweiterung, oft auch Geschichtskorrektur. Und so fährt er auch dorthin, wohin man von Kabul aus seit vielen Jahren in der „befreiten“ Republik immer weniger fahren konnte. Manches kannte ich aus den frühen Jahren in Afghanistan, natürlich Mazar, Asadabad, und sehr früh Kandahar. Aber dass Reuter jetzt auch nach Nimruz vorgedrungen war, nach Ghormatsch im Nordwesten, das ist schon ein Erlebnis, das man sich selbst gewünscht hätte.

Soweit der allgemeine Roadtrip. im äußersten Südwesten, Seine spezielle Qualität aber ist die Kommunikation am Wegesrand, bisweilen von Taliban, Polizei, festgehalten, bisweilen so friedlich und gastgeberisch aufgenommen, wie das eben in der Zeitlücke des noch nicht ganz gefestigten autoritären Regimes geht – das kann der erfahrene Journalist und Reisende besser als viele Experten sich vorstellen zu können, weil sie ihren Berichten im Vorab trauen müssen. Die Wirklichkeit ist oft unglaubwürdig, aber eben wirklich. Das wird unterstützt durch die Bezugnahme auf Thomas und Iris Ruttig und deren Team, wohl die langfristig noch immer beste Quelle für Information https://www.afghanistan-analysts.org/en .

Das Buch von Christoph Reuter ist, wie seine früheren Texte und Bücher zu Afghanistan, Syrien, der Ukraine, ein MUSS. Das sagt man nicht leichtfertig, ich baue ja gerade ein Afghanistanarchiv auf, voller Bücher, Dokumente, Bilder. Aber Reuters Buch ist eine Ausnahme, er gehört in eine Reihe wichtiger Quellen auch zur Selbstreflexion des Westens, was der dort verloren und nicht gewonnen hatte, vielleicht gemeinsam mit Ahmet Rashid. Die Parteinahme für die von Gewalt, Folter, Armut, Hunger bedrohten Afghanis ist nicht eine einseitige Verurteilung des Westens, sondern auch eine Beurteilung der Schwächen und Fehler afghanischer Politik. Aber da ist die Besonderheit: zwar beschreibt und analysiert Reuter viel Politisches, auch Politökonomisches, aber es geht ihm nicht um den Staat, sondern um die Gesellschaft, also notwendig ein Heraustreten aus der Vertikalsicht auf die Macht und  der erlebte Nachweis, dass die Menschen in ihren sozialen Beziehungen, in ihrer Angst und Hoffnung eben nicht das „Unten“ sind, das von „oben“ gerettet werden kann (wobei ja „Oben“ dem afghanischen Staat seit Karzai vielleicht eine Übertreibung war).

An manchen Stellen seiner persönlichen Begegnungen, auch Lebensgeschichten und Zukunftsaussichten, ist es ein trauriges Buch. Weil, und das zeigen ja auch die letzten Monate, noch keine Ende des schmerzhaften Abwärtstrends in Sicht ist, der nicht erst mit den Taliban, nicht erst mit Trump und Doha begonnen hatte. Dass in diesem historischen schmerz dennoch individuelle Hoffnungen, im Bleiben wie in der Flucht, im Anpassen wie im Widerstand, erlebbar sind, ist ein gutes Mittel gegen die Arroganz der Politik, ihr Fehlverhalten und ihre mangelnden Konsequenzen auch noch schön zu reden, durch angebliches Nichtwissen, nichtkönnen und höherrangige Politische Einbindung. Reuter als Gegengift ist auch nicht zu verachten, aber das bedeutet auch sich, auf eine Lesepraxis einzulassen, die nicht bei der Aufnahme von Bericht und Bild endet.

Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS.

Mettelsiefen, M. R., Christoph (2010). Kunduz, 4. September 2009. Berlin, Rogner & Bernhardt.

                Forschungsbericht und Fotodokumentation nach dem Bombardement vom 4.9.2009. Vgl. Ausstellung Potsdam 24.4.2010

Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023

Reuter, C., M. Mettelsiefen, H. Theiss (2010). Kunduz, 4. September 2009. Eine Ausstellung. Kunstraum Potsdam, 04/23-06/13/2010.

https://www.afghanistan-analysts.org/en

Frühling des Pöbels

Die Audiklimaverbrecher werden vom Gericht geschont. Es lohnt, sich zu verständigen. Wer da auf der Bank sitzt oder Anwalt des Staates ist, ermutigt andere Gauner. Dem Stadler ist es egal, dass er ein Monatsgehalt abführt und einen schlechten Ruf behält. Hunderttausende Luftverpester ersticken seinetwegen, nicht gleich, aufgeschoben. Und das Gericht? Der Rechtsstaat wird manchmal sichtbar rechts.

Der Pöbel erlebt einen Aufschwung. Er hatte immer schon einen Platz in einer noch unreifen Demokratie, deren Erfolge man ja nicht leugnet, aber sie ist noch weit von ihrem Ziel…

Im Augenblick tobt sich der Pöbel gegen die Grünen aus. Als ob die Klimapolitik eine Klassenfrage wäre tun sich Autolobby, Hausbesitzer und andere Lebensmüde zusammen, um hier zu bremsen und vor allem um Vertrauen zu zerstören. Dass beim Wirtschaftsministerium ein Staatssekretär unsinnig gehandelt hat – sicher, und das kann und muss korrigiert werden. Habeck macht das schneller und besser als Andere, aber natürlich: das war ein Fehler. Dass der Staatssekretär trotzdem ein Fachmann ist und bleiben wird, bestreitet der Pöbel gar nicht, aber man versucht ja den Minister zu treffen, um mehr Abgase auf die Autobahnen blasen zu können.

Pöbel ist ein gefährlicher Begriff, weil er quer zu Klassen und Ständen und Milieus alle Schichten der Bevölkerung durchsetzen kann; nicht das Geschehen und die Struktur, sondern Event und Augenblick sind die Waffen des Pöbels. Zur Verteidigung nimmt der Pöbel gerne Aufmerksamkeit und Aktualität in Anspruch, wann, wenn nicht, wer, wenn nicht wir? Das Jetzt und das Wir sind die gefährlichen Begriffe: Die Springerpresse lenkt von Döpfner ab, und hackt auf den Grünen herum, wie andere Medien, z.B. t-online täglich, als wäre das eine AfD Filiale. Merz hackt auf den Grünen herum, als wäre er nicht gerade in der Demokratie auf sie angewiesen. Dass Söder lügt, weiß sogar t-online auch. Der Pöbel ist sozusagen eine große Koalition, größer noch als die Berliner schwarzrosa Banalität.

Dass die Grünen nicht mit den gleichen Waffen zurückschlagen, hat Gründe. Ich bin lange genug bei der Partei, um die Ärgernisse und Fehler nicht verdrängen zu müssen. Aber eines ist auch klar: Deutschland verliert ohnedies auf allen internationalen Vergleichsebenen. Ohne die Grünen in Bund und Ländern wäre die Umweltpolitik und das Sozialstaatsempfinden aber noch viel schwächer. Daraus zieht man nun kein momentanes Selbstbewusstsein (Das ist eher Söders Waffe). Aber was wie eine defensive Grünenverteidigung aussieht, ist der Preis dafür, nicht mit dem Pöbel sich zu verbünden.

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Sich festzukleben und Kunst zu zerstören und Anstoß zu erregen, ist falsch. Aber die Reaktion des Pöbels auf die Kleber und die „rechtsstaatlichen“ Verteidiger der brutalen Wegzerrer schaffen den an sich richtigen Argumenten der Letzten Generation eine sekundäre Rechtfertigung. Man hat den Eindruck, dass sich Pöbel und Rechtsstaat zusammentun, um für die Klimapolitik Bahnsteigkarten zu fordern, ohne die man keinen Zug in die geschonte Umwelt erreichen darf. Das ist ein aktuelles Beispiel, zugegeben, und ich gehe auf Distanz zur Aktualität.

Am 20.2.2022 habe ich zu Beginn des russischen Angriffs Amery und den Terror der Aktualität zitiert (Blog). Dessen Gedanken sind eine Leitlinie für vieles an meiner Lebenspolitik, ich bin ja kein Politiker. Ja, der Event drängt manchmal zu sofortiger Reaktion. Aber wie reagieren? Womit? Manchmal muss man sich zum Abstand zwingen, um klar sehen und denken zu können (so wie das Ernst Bloch beim Anschauen gotischer Kathedralen empfiehlt). Der Pöbel bezieht seine Wirkung aus der falschen Unmittelbarkeit. Man muss sich nicht, man darf sich nicht unbegrenzt Zeit nehmen, um etwas zu bedenken und vor allem zu handeln, aber man braucht hinreichend Zeit dazu. Das kann vielleicht kurze Dauer bedeuten.

Manche werden ihre Kommentare zu Habeck, zu Palmer, zu den Klebern, zu den Flüchtlingen…noch bedauern; nicht weil ich es sage, sondern weil die Wirklichkeit sie dazu zwingt. Der Pöbel bedauert nie, er sagt, die Zeiten sind jetzt anders, und wir hatten damals recht. Naja. Andere bleiben unverrückbar bei ihren Standpunkten, dann gibt es kein Damals, sondern nur Jetzt.

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Die Grünen werden die Pöbeleien überstehen, natürlich mit Blessuren, natürlich mit Verlusten, aber sie werden gewinnen, wo sie recht haben und vor allem richtige Politik gegen die neoliberalen Geschwindigkeitsfanatiker und privatisierenden Staatsfeinde durchsetzen wollen. Eine Koalition ist keine Ehe. Und den Pöbel heiratet man sowieso nicht.

Leipziger Allerlei, ich lese eine Messe

Wenn man zur Buchmesse fährt und mit der Deutschen Bahn tatsächlich ankommt, dann denkt man nicht gleich ans Essen. Sollte man aber, denn die Kulinarik auf der Messe verdient keine Rezension….aber das ist ein schlechter Kalauer, Verzeihung.

Ich mochte Leipzig schon immer, eine gute Stadt, urban und näher an Wien als an Berlin. Zur Buchmesse wäre ich allerdings nicht gefahren, hätte meine Frau, Birgit Seemann, nicht gelesen

und wäre Österreich nicht das diesjährige Gastland. MEAOISWIAMIA. LEST DAS BITTE DREIMAL LAUT VOR. Wo doch die informierteren ExpertInnen wissen, warum sich Österreich auf dem deutschen Buchmarkt schwer tut, obwohl die besten deutschsprachigen AutorInnen sowieso häufiger aus Österreich kommen, bedenkt man die Quantität der Bevölkerung.

Also, wir fahren zur Buchmesse. Anlässe genug, und da wir bei guten Freunden wohnen, auch kein Abenteuer bei der Suche nach Lagerstätten.

Fährt man raus zur Messe, ist es ein Vergnügen. Die Straßenbahn ist voll, ganz viele Junge sind verkleidet, schließlich ist ein Teil MM ja die MANGA-COMIC-CON, und das ist Teil der Freiheit, sich so dorthin zu begeben und eine zweite Ebene in sein Leben einzuziehen. Ich habe keine dieser hunderten wunderbaren Gestalten fotografiert, es wäre eine ungerechte Verteilung geworden, ganz viele nicht im Bild zu haben. Und die volle Straßenbahn erzeugt schon eine gewisse Solidarität.

Dann ist man endlich drin, und ich wusste ja, warum ich mit gemischten Gefühlen auf Buchmessen gehe, selten genug: im Überschwang der vorgestellten Druckwerke muss man die Juwelen wirklich suchen, die wirklich guten kleinen Verlage haben dementsprechend kleine Kojen, die ganz großen zeigen sich übervoll, nur bei den Lesungen kann man von der Größe oder Kleinheit der Versammlung nicht ohne weiteres auf Qualität und Verlag schließen. Man geht halt zu den Namen, die man sehen und hören will. Und macht einen weiten Bogen um manche Namen und manche Verlage.

Die Lesung meiner Frau war erfreulich, und andere haben das auch gerne gesehen und gehört, auch im Rundfunk nachgehört. Und schaut man sich im Gastlandsektor um, fallen einem die vielen kleinen österreichischen Verlage auf, die schon eine andere Kultur repräsentieren, was Schreiben, Verlegen, Verteilen, Rezensieren betrifft.

Von den vielen Kommentare einer: SZ 29.4.2023

(Aus einem Interview)

Welche Unterschiede sehen Sie in der politischen Kultur zwischen Österreich und Deutschland?

Köhlmeier: In der österreichischen Kultur herrscht ein hohes Maß an Niedertracht. Der politische Gegner wird manchmal als strohdumm oder als abgrundtief böse betrachtet. Ich merke, es steckt mich an. Dass ich beim politisch Andersdenkenden Ansätze habe zu denken, ist der zu blöd, dass er das kapiert? Oder er ist so böse, korrupt oder verdorben….

Aber ist der Stellenwert der Kultur in Österreich denn nicht höher als in Deutschland?

Helfer: Ich denke, ja. Zum Beispiel das Theater.

Köhlmeier: Darum beneiden uns die Deutschen. Wir haben es, tun aber nichts dafür von Seiten der Politik. Was müssten wir da noch fördern? Wenn man es auf die Bevölkerungszahl hochrechnet, haben wir viel mehr Autoren als Deutschland. Und am meisten hat Vorarlberg“.

An solche Sachen denke ich und höre da auch Gespräche mit, während wir uns anstellen, um guten Wiener Caf’e zu bekommen. Manchmal ist man auch gerne Doppelstaatsbürger.

Die dunkle Seite der Wanderungen durch die Verlagskojen sind die überwältigenden Massen an ausgestelltem Unsinn – hier geht es nicht um Differenzen im Geschmack oder Prioritäten. Ich nenne hier keinen Verlag und keine AutorInnen, aber die reine Massenzulassung ist eben auch nicht demokratisch.

Eine hellere Seite zeigt sich bei der Zunahme der Wertschätzung für Übersetzungen, natürlich und richtig aus der Ukraine, aber auch vom Balkan. Und für mich überraschend die Dynamik bei Schul- bzw. Lehrbüchern.

Wiederum dunkel: so viel esoterischer, spiritistischer, abstruser Blödsinn kann gar nicht den Massengeschmack treffen, zumal Helene Fischer zur gleichen Zeit auch Massen auf sich zieht….Naja. Ich schimpfe nicht und flüchte mich zu den Zeitungen, SZ und TAZ sind gut vertreten.

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Diese subjektiven Eindrücke will ich ein wenig überbauen, die BesucherInnen sind ja abgereist, und die Messe bereitet sich aufs nächste Jahr vor. Die verkleideten Mangas werden mich vielleicht wieder herlocken, und unsere Freunde in Leipzig, und die Stadt…

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Aber was mich verfolgt, außer der Mühe, sich durch den Griessbrei ins Schlaraffenland der guten neuen Bücher zu fressen, ist die Frage nach der Zukunft von Buch und Bild im Zeitalter begrenzter Menschendauer auf Erden und dem unaufhaltsamen Vormarsch der IT, auch die Frage nach meiner/unserer Bibliothek zu hause. Nein, keine esoterische Reise zu einem Auswanderungsplaneten der privilegierten Kulturgötter auf den Buchplaneten, auch nicht ein apokalyptisches Bedauern über das Ende des Denkens, der Moral, der Ästhetik, das Ende von allem, was uns selbst Bewusstsein schafft, wenn es uns nicht mehr geben wird, vertrocknet oder weggeschwemmt. Sondern ganz praktisch. Für die nächsten Jahrzehnte. Fahrenheit 451 von Ray Bradbury verfolgt mich schon länger als es Wikipedia gibt (https://de.wikipedia.org/wiki/Fahrenheit_451#Literatur), aber es hat eine große ausufernde Wirkung gezeigt. Und was es bedeutet, einen Text auf den Lippen zu haben, wenn man verdorrt oder anderswie zu Ende geht, ist eine reale und keine philosophische Überlegung. Saurier hatten seinerzeit noch keine Sonettzeile zwischen den Zähnen. Über die Hoffnungen des politischen, also gesellschaftlichen Überlebens gibt es auch gute Gedanken, z.B. Marlene Knoblochs Bericht über Maxim Biller auf Schloss Elmau (SZ 2.5.2023). Paradigmatisch greift er eine Vergangenheit heraus, um eine mögliche Zukunft herbei- oder wegzurufen. Das aber ist typisch für die Gewissheit, dass es uns, als species, weiterhin geben wird, wir also Nachkommen unserer Nachkommen … n+1 haben werden. Wenn aber diese Gewissheit erodiert, dann ist z.B. die Bibliothek oder die Galerie bis zum Ende eine gute Vorstellung, den Abschied vorwegzunehmen ohne deshalb schon im Orkus zu versinken oder das Ende mit zu „erleben“, das wird ja nicht uns schon treffen, und die Schuldgefühle können wir an die Ferienhauswand nageln. Luthers Apfelbäumchen wird nichts nützen, aber vielleicht wird uns die Bibliothek Mut geben, doch noch am Klima, an der Friedenspolitik, an der Gesellschaft zu arbeiten. Wenn man so richtig am Lesen ist, merkt man vielleicht gar nicht, welcher Boden einem unter den Füßen weggezogen wird…das ist auch ein Argument gegen die sich verbreitende Vorstellung, die digitale Lesart der Welt könnte unsere menschliche Leseföhigkeit überholen, selbst die Welt denken. Soll sie, aber ohne uns, mich beruhigt das. Wenn ChatGPT die menschenlose Zukunft erprobt, ja, was dann?

What will happen at the end of time, when IT surpasses human intelligence? Das war meine Frage. Die Antwort:


As an AI language model, I can provide a speculative answer based on current trends and projections in artificial intelligence and technology.

Firstly, it is important to note that the idea of „the end of time“ and a point where artificial intelligence surpasses human intelligence is based on the assumption that AI will continue to advance at an exponential rate, eventually reaching a point where it becomes significantly more intelligent than humans. However, it is difficult to predict with certainty when or if this will occur.

If and when AI surpasses human intelligence, it is likely to have significant implications for society and the future of humanity. One possibility is that AI may become the dominant form of intelligence on the planet, leading to a shift in power dynamics and potentially even a restructuring of society.

There are many potential scenarios that could play out, depending on how society chooses to adapt to the rise of AI. Some experts have raised concerns about the possibility of a „singularity“ event, in which AI rapidly advances beyond human control, leading to unpredictable and potentially catastrophic outcomes.

Others have suggested that AI could be harnessed to solve some of the world’s most pressing problems, such as climate change and disease, and that humans and AI could work together in a collaborative partnership.

Ultimately, the future of AI and its relationship with human intelligence is difficult to predict with certainty. However, it is clear that the development of AI will continue to have a profound impact on society, and it is important that we continue to explore these issues and develop strategies for managing the potential risks and opportunities presented by this technology.

Noch sind wir gut dran. Gehen in die Bibliothek, suchen uns ein Buch, lassen andere beiseite. Aber versucht einmal, eure Bücher vor dem Verschrotten zu retten, wenn ihr alt seid, die Wohnung verkleinert, umzieht….wer will den schon Bücher oder hat genügend Wandfläche für die Bilder?

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Ich gehe durch die Bibliothek von Babel, die andere das Universum nennen. Unbedingt lesen, auch zur Immunisierung gegen ideologisch verblödete Textvernichter. (https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Bibliothek_von_Babel

Wenn die Bücher uns überleben, dann haben vielleicht manche Tiere die Chance unsere Texte zu entziffern und eine neue Erinnerung an die Menschen zu denken. Aber das wird dauern…

Was klebt woran? Wer klebt wozu?

<„Ausgerechnet der Text einer Aktivistin“ – Neubauer-Text taucht in Abi-Prüfung auf – CDU hat Fragen an Grünen-Ministerin

Artikel von FOCUS Online • 26.4.2023

<„Abiturienten in Niedersachsen mussten in diesem Jahr ein Essay von Klima-Aktivistin Luisa Neubauer analysieren. Das grün-geführte Kultusministerium nennt das „alles andere als ungewöhnlich“. Die CDU ist hingegen „verwundert“. >

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Autofahren dürfen ungestraft GEWALT gegen Klimaaktivisten anwenden. „Mögliche Körperverletzungen, wie sie beispielsweise auf Twitter-Videos erkennbar sind, führen laut Polizei von Amts wegen zur Einleitung von Ermittlungsverfahren. Diese würden aber „wegen mangelnden Interesses“ eingestellt, falls die Geschädigten von Anzeigen absähen – wo kein Kläger, da kein Richter.“ (Tagesspiegel 26.4.2023)

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MACHT NUR SO WEITER. Der Pöbel, ermutigt von den Neoliberalen v.a. der FDP und anderen, die das Land nach rechts führen wollen, nimmt sich das Recht, wo es nicht mehr durchgesetzt wird.

Das verwundert nicht. Es könnte sogar eine Auseinandersetzung sein, die wir als zur Demokratie zugehörig erachten. Aber dass wir, Deutschland, Österreich, die minimalen Klimaziele bewusst verfehlen, dass die 1,5° in weiter Ferne sind, es also bald unumkehrbar wird, ist dem Pöbel egal. Hauptsache, das Eigentum wird geheiligt, der Ausblick nicht durch Windräder behindert und wenn die Enkel ersticken, erleben es Energieverschwender ohnedies nicht mehr. An ihren Gräbern weint niemand, wenn es wirklich heiß wird.

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DA SCHIMPFT ABER EINER ANSTATT ZU ARGUMENTIEREN, sagen jetzt einige meiner LeserInnen. Ja, ich HÄTTE auch Argumente, gute und haltbare. Aber ich will auf etwas ganz anderes hinaus als man jetzt erwarten könnte. Auch ich finde KLIMAKLEBEREI nicht richtig. Durch das Demonstrationsrecht legitim, aber in Sache und Wirkung falsch. Aber das hat ja eine weitere Folge: weil man sich mit den Autofahrern und anderen Klimagegnern einig zu sein scheint, trauen sich die KLEBEKRITIKER mit ihren Argumenten aus der Deckung. Und da muss ich sagen: wenn die Klimakleber falsch liegen, dann erst recht ihre pöbelhaften Kritiker, ja, diese legitimieren sozusagen im Nachhinein und ungewollt alle, die sich festkleben. Meist gehören diese Kritiker einer Generation an, die erhebliche MITSCHULD  an der Klimakatstrophe trägt.

Die Volte: natürlich gehöre ich auch zu dieser Generation. Und trage einen Teil der Mitschuld, wie viele unnötige Flüge habe ich gemacht, wie viel Auto bin unsinnig gefahren, wieviel Energie habe ich verschwendet, wieviel bin ich also BETEILIGT an den Mitverursachern. DAS IST WEDER BEICHTE NOCH ZERKNIRSCHUNG, das ist fast Positivismus und Faktencheck. Nur: ich möchte mich von denen distanzieren, die die Klimaaktivisten in die kriminelle Ecke stellen und für ihre so genannte Klimapolitik noch eine Bahnsteigkarte lösen wollen, um unbeschadet ihrem Erstickungstod im Wohlgefühl entgegen zu dämmern.

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Na klar, der Situation kann man auch anders begegnen, kann Kritik und Gegenkritik abwägen, kann sich anderen Klima-Aktivisten anschließen, was ich übrigens mache, und nicht den Klebern. Aber dieses „Man“ ist im Augenblick die Ausrede dafür, mit den Feinden des Überlebens Kompromisse auszuhandeln, weil das Volk ja „mitgenommen“ werden will. Das Mitnehmen ist ein interessanter Ausfluss neoliberaler Argumentation. Demokratie-theoretisch geht das nicht so einfach. Vielleicht braucht es neben mehr Bildung noch anderer Instrumente um die Massen von Klimazielen zu überzeugen. Gut, dass wir so wenig Zeit haben, deshalb ist mehr und mehr Klartext nötig, der Diskurs im Aussitzen von Gefahr und Konflikt ist sehr beschränkt. Fünf Jahre, zehn Jahre…Da kann Söder noch so sehr gegen Windräder pöbeln, da kann Lindner seinen Sportwagen noch so aufheulen lassen, da kann man Vergehen gegen den gesitteten Alltag noch so straffrei stellen – dem Pöbel können nur wir, Zivilgesellschaft in der Demokratie – uns entgegenstellen, weil der Widerstand auch Mehrheiten verändern kann – dafür haben wir Beweise – und weil er alternativlos ist, Frau Merkel, danke für den Begriff.

Keine Bahnsteigkarte für den zeitvergeudenden Kompromiss! „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ (Friedrich von Logau, später Alexander Kluge und Edgar Reitz), naja, man kann auch sagen, dass man am Mittelstreifen nicht schnell fahren kann. Was, wir sind noch nicht Gefahr und größter Not? Wenn wir die beiden trennen, stimmt das für einige kurze Zeit. Dann landen wir am Mittelstreifen und warten, dass uns jemand mitnimmt.

Nadia Nashir Karim

Nadia Nashir Karim 1955-2023

Nadia Nashir Karim ist am 20.4.2023 gestorben. Sie war ständig präsent, nicht nur als Gründerin im Afghanischen Frauenverein; nicht nur in produktiver Zusammenarbeit mit Roger Willemsen; nicht nur als Expertin für die GTZ und andere offizielle Stellen; nicht nur als Journalistin und Übersetzerin. Das „Nicht nur“ soll darauf verweisen, dass Nadia die treibende Kraft war, in Afghanistan über Projekte und Beratung das Leben der Menschen, vor allem der Frauen und Mädchen, besser zu gestalten; sie war unermüdlich, und im komplizierten Kosmos der Entwicklungszusammenarbeit gehörte sie zur realistischen Schule derer, die keine Schranken der Kommunikation kannten, um so viel wie möglich zu verwirklichen; ohne dass sie sich jemals an die Gewalt oder den Opportunismus angebiedert hätte.

Osnabrück hatte uns schon früh verbunden, aber meistens haben wir uns in Berlin getroffen. Das Konkrete bei diesen Treffen, Themen, aber auch Veranstaltungen, war deshalb so beeindruckend, weil sie nicht nur ihre Projekte, sondern deren Rahmen im Land wirklich kannte. Ich war besonders von ihren realistischen Schul- und Klinikprojekten beeindruckt, bei deren Verwirklichung sie hier wie im Land große Hürden überwunden hatte. Hürden, die auch von den Taliban aufgebaut wurden, und die unter Vermittlung der Menschen „von unten“ abgetragen hatte. Der Afghanische Frauenverein e.V. hat das Lebenswerk von Nadia sehr anschaulich präsentiert und gewürdigt: Unsere Gründerin Nadia Nashir Karim | Afghanischer Frauenverein e.V. (afghanischer-frauenverein.de) (25.4.2023). Ihr Leben ist bei wikipedia gut zusammengefasst (Nadia Nashir-Karim – Wikipedia) (25.4.2023),

So gedenkt man in den Nachrufen derer, die man für wichtig und würdig hält; meist dauert die Erinnerung nicht lange. Wir können aber auch anders auf Nadia Nashir Karim und ihr Lebenswerk zurückblicken. Nach ihren Studien in Kabul und Osnabrück war sie nicht nur rastlos tätig, sondern hat auch die Anläufe zur Demokratie und zum Gemeinwohl in Afghanistan immer wieder zwischen den beiden Gesellschaften vermittelt. Sie hat die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen müssen, aber vorwiegend hat sie von „unten“ agiert, Spenden gesammelt, Informationen getauscht, Projekte konkretisiert – und immer die Frauen im Blick, die Mädchen, alle Kinder. Das liest sich einfacher als es war, nicht erst seit der neuerlichen Herrschaft der Taliban, die waren ja nie ganz weg, und oft haben die Regierung und der lokale Machthaber den Projekten auch eine Menge Steine in den Weg gelegt. Und Nadia hat, mit ihren Kolleginnen und Kollegen, diese Hindernisse abgetragen. Eine Klinik in Afghanistan aufbauen, eine Schule lebenswürdig gestalten, Wohnprojekte befördern, das erfordert nicht nur finanzielle Anstrengungen, hier geht es darum, Menschen zu erreichen, ihnen Selbstbewusstsein zu vermitteln. Und das konnte Nadia.

Wann immer wir uns getroffen haben, gab es ein Problem im Zentrum des Gesprächs und keine komplizierte Auslassung über Stärken und Schwächen der Politik. In ihrer Praxis war Nadia durchaus politisch. Aber mich hat die Nachricht von ihrem Sterben auch betroffen, weil sich unter der Rüstung der tatkräftigen, engagierten Humanistin auch eine sensible, einfühlungsstarke Frau befand, die durchaus in der Lage war, die Probleme der Frauen in Deutschland genauso ernst zu nehmen wie in Afghanistan. Sie konnte den Zusammenhang einer oft zu schwachen Politik für die Menschen dort sehr präzise auf Ausgrenzungen hier zurückführen.

Ihre Geschenkkarten und Briefe sind Erinnerungsstücke in meinem Archiv, die immer mahnen, die Projekte der Nadia Nashir Karim und ihrer Mitarbeiterinnen und Freunde weiter zu unterstützen und sie nicht im Nebel der politischen Gedächtnisverlustes untergehen zu lassen. Sie gekannt zu haben, war ein Teil von produktiver Entwicklungspolitik, das zeichnet sie weiterhin aus.

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Im übrigen bitte: Spende an den Afghanischen Frauenverein mit dem Stichwort „Nadia“, Commerzbank, IBAN: DE28 5708 0070 0680 8505 00.

Lechts, Rinks, Mittelweg

Die deutsche Aufgeregtheit hat Gründe und ihre Wurzeln. Verdrängung und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, wirkliche Probleme für die Gesellschaft in praktische Politik, mehr noch: ins Bewusstsein zu übernehmen, gehören zu diesen Gründen. Es wird zwar ausführlich, institutionell und personalisiert, über die Fehler der Vergangenheit räsoniert, offen gesprochen, politische Korrektheit konstruiert, da tut sich in Deutschland seit Jahrzehnten vieles, manche betrachten dies sogar als vorbildlich, man sagt, das deutsche Volk habe aus der Vergangenheit gelernt. Aber, das ist bitter, der Überhang an Diskurspolitik hat wenig Entsprechung im Bewusstsein und in der Praxis eines großen Teils der Bevölkerung.

In vielen anderen Ländern, in unserer Umgebung, werden die gleichen Probleme anders, weniger aufgeregt, diskutiert. CAVEAT: in keiner Gesellschaft werden Klimawandel, soziale Spaltung, Flüchtlingsprobleme, … (nicht) stärker verdrängt als bei uns und (nicht) weniger aktiv behandelt als bei uns, aber seltsam anders, cool, nicht kalt. Vielleicht nicht in „keiner“, sondern in vielen, nicht so intensiv, nicht so aufgeregt.

Wir wollen so gerne vorne sein: bei den Lektionen, die wir aus dem Weltkrieg, aus der Nazizeit, aus der bleiernen Zeit gelernt haben. Aus den vielen Begründungen eine verstörende: Unser Bildungssystem ist zunehmend asozial und dysfunktional, und die Schuld liegt nicht vorrangig am Lehrpersonal. Die Brüchigkeit der gesellschaftlichen Bildung ist scheinbar ein Widerspruch zum so intensiv als vorbildlich angesehenen Schul- und Hochschulsystem, wir waren doch vorn, seit Humboldt, seit…ja, waren wir das wirklich, während wir auf die schlechten Schulen und Unis der anderen hinabgesehen haben? CAVEAT: es gab tatsächlich viel erfolgreiches im deutschen Bildungssystem. Aber irgendetwas kann nicht stimmen, wenn es darum geht, das Wissen und eine bestimmte Haltung dem Bildungsbegriff einzuschreiben, einem unübersetzbaren Wort, das schützt uns…

Mit diesen Gedanken bin ich nicht allein. Mich treibt etwas anderes um: dass diese induzierte Aufgeregtheit auch in Bezug auf einen Politikwandel der letzten Jahrzehnte auf eine defekte Bildung von Bewusstsein und gesellschaftlicher Sensibilität zurückgeht. Nach den reformerischen „sozialdemokratischen“ Jahrzehnten scheint es jetzt eine globale, europäische, auch deutsche Pendelbewegung nach rechts zu geben, die besondere sprachliche und emotionale Aufgeregtheiten mit einer weiteren verschwiemelten politischen Bewertung und Gegenpraxis verbinden.

In Österreich gibt es eine teilweise Nazipartei, die FPÖ, die auch manchmal mit anderen Parteien koaliert, wobei es in der christdemokratischen ÖVP einen austrofaschistischen Flügel nach wie vor gibt. Macht das die demokratische Mehrheit in Österreich toleranter oder weniger abgrenzend gegenüber den Faschisten? Eher nicht, aber die Unterscheidung zwischen den alltäglichen gesellschaftlichen Verrichtungen und den prinzipiellen Differenzen, bei denen es ums „Ganze“ geht, ist in der Praxis der Individuen und Gruppen stärker.

In Deutschland vermeidet man die großen Vergleiche – was wissenschaftlich falsch und psychologisch folgenreich ist: Die Rechten von der AfD und ihren Verbündeten sind keine Nazis oder Faschisten, die Putinanhänger gehören nicht in die Gefolgschaft der Stalinisten, die Aufgeregtheit kommt auch daher, dass sich niemand ohne Widerstand den Brennpunkten auf der Rechts-Links-Achse nähern darf, und dass der Faschismus der Mitte ebenso aus dem Bewusstsein abgedrängt wird wie die Annäherung der Extreme auf beiden Seiten. Diese Achse ist falsch, wenn sie je richtig war. Man soll zwar nicht mit der AfD und ihren Verzweigungen zusammenarbeiten, man kann sich von Wagenknecht und den russophilen Stalinisten nicht genug distanzieren, aber die Begründungen sind merkwürdig blass.

Man kann das analytisch sehr genau begründen. Aber schon vordergründig kann man feststellen, dass, dass die Aufgeregtheit einen Anlass in der Angst vor den wahrhaftigen Begründungen liegt. Meloni, Orban, … sie alle sind in mehr als einem einem Netzwerk, an dem wir Deutschen auch beteiligt sind, das schwer als eindeutig zu bezeichnen, geschweige denn praktisch zu kritisieren ist. Aber sie sind trotz Netzwerkbeteiligung nicht „bei uns“. Sie gefährden die Demokratie, bei der wir Partner sind und ihnen gegenüber verpflichtet, wie sie uns gegenüber, EU, NATO, UN etc., aber natürlich auch wirtschaftlich, und die Ökonomie ist ja längst von der Politik getrennt.

Dafür ist unser Lieblingsverb in der täglichen Aufgeregtheit Abgrenzung, und die wird politisch korrekt begründet.

Allmählich fällt das nicht nur Intellektuellen, Kritikern und Künstlern auf, sondern findet Widerstand in den Alltagsdiskursen. Aber da schließt sich ein Kreis: es muss mehr für die Bildung, die Herausbildung einer kritischen Wahrnehmung und Beurteilung geben, u.a. dessen, was an Faschismus noch immer und schon wieder lebt, unter welchem Namen es sich gerade verbirgt. Das hat mit Bildung, Aufklärung und auch Kritik der beiden zu tun, und mit dem Kampf gegen die Scheinliberalität der Zerlegung unserer Gesellschaft in lauter individuelle Konsumenten, deren Bedürfnissen wir unsere Gesetze und Regeln gefälligst unterwerfen sollten.

Klebt andere fest

Bettina Jarasch: „„Ich habe jedes Verständnis für junge Leute, die Angst vor der Zukunft haben, weil uns beim Klimaschutz die Zeit davonläuft“, sagte Jarasch dem Checkpoint. Allerdings müsse es darum gehen, wie man beim Klimaschutz mit ganz konkreten Maßnahmen schneller werden und dafür Mehrheiten organisieren kann. Jarasch: „Mein Eindruck ist, dass dies der Letzten Generation mit ihren Aktionen nicht gelingt und wir am Ende mehr über Sicherheit und Ordnung, über Polizeieinsätze oder über Staus diskutieren als darüber, wie wir konkret beim Klimaschutz vorankommen.““ (TS, 19.4.23)

Jarasch bringt die unlösbare Aufgabe auf den Punkt. Man kann die einzelne Aktion oft weder gutheißen, noch würde man sich ihr anschließen, wäre man selbst Teil der Protestbewegung. Aber da fängt das Problem an. Wenn ich mir die Kritiker genau anschaue, dann muss ich Letzte Generation u8nterstützen. Die Klimazerstörer stoßen sich an den Aktionen des Protests und rufen nach dem Rechtsstaat, der in Sachen Klima – wie auch anderswo – von der Wirtschaft, aber auch vom privaten Wohlergehensvorrang systematisch ausgehöhlt wird. Am dümmsten ist das Argument, dass die Bevölkerung ja gegen die Proteste ist…und wenn die Bevölkerung für die Todesstrafe beim Überqueren der Ampel ist, was dann?….oh, rechter Rechtsstaat.

Viele Argumente der jetzigen Hetzjagd kenne ich noch aus der Vorzeit. Was hat der rechte Pöbel gegen die Kampagne gegen § 218 gehetzt. Ich habe abgetrieben…Wenn die jetzigen Feinde der Aktivisten sich a( auf den Rechtsstaat und b) auf den Volkswillen berufen, dann haben sie Demokratie nicht verstanden. Denn die hat sich u.a. erst entwickelt, wenn sich eine natürliche Ordnung mit Gleichberechtigung aller nicht hat einstellen wollen.

Nein, ich finde die Festklebaktionen nicht gut. Und Kunst zerstören auch nicht. Aber ich finde die Klimazerstörungspolitik der Regierung, Wissing voran, auch nicht gut. Nur den kann man nicht mehr festkleben, der klebt schon…

Deportiert Söder, Lindner & Co…

nach Tschernobyl, Fukushima und in die Wirklichkeit.

Die Diskussion um Kernenergie hat Dimensionen nationaler Blödheit erreicht, die nur mit dem geistigen und materiellen Abstieg unseres Landes in die Mittelmäßigkeit erklärt werden können. Als ob es darum ginge, keine oder nur beherrschbare „Unfälle“ zu erwarten, wenn die AKWs „unsere“ Energie stützen. Als ob der CO2 Ausstoß von Kohle und Gas mit den Strahlenfolgen der Kernkraftunfälle verglichen werden könnte – übrigens: Krümmel schon vergessen?

,(https://de.wikipedia.org/wiki/Leukämiecluster_Elbmarsch ; https://www.deutschlandfunk.de/die-leukaemiekinder-von-kruemmel-100.html)

Ach ja: Pech für alle Bundespolitiker der Grünen und für alle „Paradies- und Stolpervögel“, die den Atomausstieg befürworten: Ab sofort dürfen sie nicht mehr im „Bigger Hof“ speisen, einem Hotel-Restaurant im Hochsauerland. Der Wirt des vor Ort auch als „Platzhirsch“ bekannten Lokals in Olsberg hat ihnen „ab sofort Grundstücks- und Hausverbot“ erteilt. Darüber berichtete zuerst der „Sauerlandkurier“ unter Berufung auf einen Facebook-Post des Betreibers. (https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/sauerl%C3%A4nder-wirt-erteilt-gr%C3%BCnen-hausverbot-im-platzhirsch/ar-AA19V6W1?:::) 16.4. Wohl bekomms…

Söder, Lindner und ihr verstrahlten Vasallen glauben (oder hoffen?), dass die Bewohnbarkeit der Erde und das Überleben ohnedies durch Klimawandel und Untätigkeit beendet sein werden, bevor die Endlagerung von radioaktiven Abfällen und die möglichen Folgen von neuen Unfällen praktisch gehandhabt werden. Das zeigt, wie stark die Strahlen das Hirn der Atomfreaks bereits angegriffen haben. Deshalb bin ich nicht gegen weitere Forschungen, vielleicht ist doch noch Heilung in Sicht? Söder in Tschernobyl wäre eine gute Vorabendserie wert…

Sagt der Pessimist: reg dich nicht auf, bevor die AKWler einsehen, wie falsch sie liegen, gibt es ohnedies Konflikte mit Nuklearwaffen, dann sind diese Dinosaurier wenigstens an ihrer weiteren Degeneration nicht selbst schuld. Wirklich?

Die Medien haben sich auf die Grünen eingeschossen, weil ihnen die Wirklichkeit peinlich ist, wo man doch auf deutschen Wahrheiten noch Gemeinschaft und Zusammenhalt weiterbereden kann. Aber das Umdenken von der friedlichen zur lebensbedrohlichen Kernenergie hat eben bei uns Grünen und einem vernünftigen Teil der zivilisierten Gesellschaften früher eingesetzt als beim Energiebiedermeier der regierenden Marktfanatiker…Das Umdenken ist nicht nur eine Frage der Vernunft, sondern auch der Ökonomie. Urlaubslindner lässt lieber Kinder hungern und streicht Sozialbudgets, als dass er mit der Subventionierung der Kernenergie aufhört…das zeigt, wie weit die Strahlen ihn schon bekränzen.

Golmer Luch


Golmer Luch, schon mal gehört? Der Sonntag beginnt in dickem Nebel, es ist kalt und nichts hält einem zu haus. Kur z vor 8 fahren wir nach Golm. Wandert man durch die Wissenschaftsstandorte, bedauert man die vergammelnden Universitäten, MPI, Fraunhofer, An-Institute sind da Jahrzehnte besser ausgestattet. Niemand auf der Straße. Nach zwanzig Minuten verlassen wir die Durchfahrt und gehen ins Naturschutzgebiet nach Westen, Plattenweg, dann Erde. Vor Jahren waren wir schon einmal hier, ohne Hund, mit Rädern. Weiden, erst Felder dann wenig bearbeiteter Wald, alles hoch zugewachsen, das gehört ja zum Deponie- bzw. Abraumgebiet. Das Luch ist eine niedrige moorige Landschaft. Golmer Luch – Wikipedia. Besonders beeindruckend sind die überwachsenen Bäume, mit Schlingpflanzen bewuchert und bewusst nicht gepflegt, aber was das eigentlich Schöne ausmacht, muss man erlaufen, viele kleine Kanäle, hunderte Weiden, nur wenige geschnitten…Wenige Meter hinter dem Weg die Absperrungen zum Deponiewald. Nach einiger Zeit kommen wir auf den großen Wanderweg von Schloss Golm nach Norden. Schaut auf die Karte, Golmer Luch Karte – Brandenburg, Deutschland – Mapcarta, denn sonst sind die Informationen im Netz spärlich. Das erzähle ich, weil wir oft dort sind, auf den Hochwasserdämmen die Wublitz entlang, mit Wasser auf den Wiesen und erst bei Grube wieder wirklich besiedelt. Dazwischen eine alte Kirche, Nattbergen, auf dem Friedhof liegt durch vier Generationen eine schweizer Kolonistenfamilie Mauerhof, seit 1855, die das Umland besiedelten, der alte Hof steht noch heute, einige der umgebenden Gebäude haben die Verschandelung durch die DDR und danach überstanden…Weiter auf den Dämmen und im Nebel ist das schöner als bei Klarsicht. Kurz nach Grube gehen wir eine Güterweg ähnlicher Bepflanzung in Richtung Golm und kommen am Ausgangspunkt zurück auf den Wissenschaftscampus. Diesmal mit dem Bus zurück, grausige Einfamilienhaussiedlungen werden allmählich durch bessere, dichtere Bebauung ersetzt, aber das Thema bleibt aktuell. Warum schreibe ich das, und wozu? Nur ein dreistündiger Sonntagsausflug, wir haben genau einen Radfahrer und ein Auto gesehen, bevor wir Hauptstraße überquerten. Aber man kann neben den Erfreulichkeiten solcher Wanderung ja auch weiterdenken. * Abgesehen, dass man die Autobahn, die 5 km entfernt ist, überall laut hört, ist es ein gut bewahrtes Gebiet, dessen Deponiegeschichte und agrarische Beschränktheit man nicht unbedingt ständig aufrufen muss. Viele, auffällig viele Vogelstimmen, sogar eine Trappe, und vor dem Wissenschaftszentrum so gut wie keine baulichen Eingriffe. Das Zentrum selbst gibt zu denken, nicht nur die Dimensionen, sondern die für diese Vielzahl notwendigen Strukturen – viele der tausenden MitarbeiterInnen haben sich in der Umgebung angesiedelt, die meisten, auch Studis, reisen per Bahn und Bus an, aus Potsdam (7km) oder Berlin. Keine soziale Infrastruktur erkennbar, einkaufen, ja, aber sonst…Nun, als alter Unihase wäre ich gerne da gehoppelt, trotzdem. Schaut euch den Anblick an, von oben: Potsdam Science Park | Der Park (potsdam-sciencepark.de). Unsere Wanderung ging oben links davon ab. Man kann sich in die Wissenschaftsgeschichte nach der DDR einlassen, ich habe da viel nach 1990 gelernt und mir damals wie heute die Frage nach der relativen Vernachlässigung der Hochschulen gegenüber den Forschungsinstituten der großen Institutionen MPI, FhG, Leibniz usw.  Gerade ist ja auch die Frage aktuell, wie kann wissenschaftlicher Nachwuchs für Lehre und Forschung auch sozial abgesichert werden und fliegt nicht nach ein paar Postdocjahren raus, wenn sie/er überhaupt dorthin kommt. Die Unigebäude der auf drei Campus verteilten U Potsdam sind hier nicht schlecht, aber ich kenne doch viele, die den Dreisprung regelmäßig machen, bis zum Griebnitzsee sind es 20 km. Soweit zur Hochschulsituation…Der Bahnhof Golm und die Busanbindung nach Potsdam sind für uns natürlich gut, man ist schnell am Charlottenhof und dann in 5 Minuten zuhause…ausnahmsweise kein ABER zur Bahn, weil das ja regional und im Windschatten der nationalen Verspätungspolitik ist. * Der Vormittag hat zu den notwendigen und empfohlenen Absenzen aus der düsteren Wirklichkeit beigetragen. In die kommt man automatisch, wenn man zu Mittag die Nachrichten einschaltet, gemildert durch lange Reportagen über die religiösen Feiern…anachronistisch, aber einfach erträgliches Schauspiel, solange nicht gepredigt wird. Es ist an diesen schwer, nicht an den Gauner Netanjahu mit seinen religiösen und landraubenden faschistischen Koalitionspartner zu denken. ABER hier gebietet es die eigene Bewusstseinsbildung nachfragen, wie es dazu kommen KONNTE. Kommen musste? Ich empfehle, auch wenn der Titel ambivalent ist, Joshua Cohens „The Netanyahus“ (Cohen 2021), da erfährt man zwischen den Zeilen Teile wirklichen Geschichte des Zionismus und der israelischen Wirklichkeit, die sich mit dem dogmatischen Gebot der Haltung zu diesem Land und zu seinen Unterstützern auseinandersetzt…und nebenbei ein lustiges Buch mit Tiefgang ist. Oder man liest Ha àretz. Das macht die Kritik an den Arabern und Palästinensern nicht weniger scharf. Aber die beiden hängen ebn nicht einfach kausal zusammen.
Die Aufmerksamkeit zur Ukraine ist noch vorhanden, schwach geworden angesichts des Gasheizungsdisputs und Lindners versuchten Raubzügen am Sozialstaat. Die Aufmerksamkeit für Afghanistan, wo Deutschland Schuld und Verantwortung trägt, ist fast verschwunden.  Wer Zeit hat, sollte Christoph Reuter hören und lesen: Buchvorstellung  Donnerstag, 20. April, 19.30 – 21.30 Uhr (MESZ)
Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin

Erholt, kann man der Wirklichkeit besser ins Auge schauen als ermüdet.  

Cohen, J. (2021). The Netanyahus. New York, NYRB.

O *

Es macht vieles keine Freude mehr, das einmal das Gewürz politisch und kulturell zum Alltagsdiskurs gehört hatte. So zumindest hört man es an allen Ecken und Enden, ich höre keine Nachrichten mehr, ich lese keine Zeitungen, man muss nur genau hinhören, in welchen Themen sich die einzelnen Hirne und Gefühle von der Kommunikation abkoppeln, sich auf die Plattform ihrer

MEINUNG

zurückziehen. Ich verfolge diese Haltung aufmerksam, entdecke in ihr von Gelbwesten über Verschwörung bis zum aktuellen rechtslinksmittigen Faschismus viele Schnittstellen. Das ist nicht schwierig, wenn man genau hinsieht und hinhört und sich zurückhält, nicht beteiligt am Chor der einzelnen Meinungen. Nun ist die Kritik an der Meinungshoheit eine alte philosophische Übung, und ich denke nicht daran, dass das heute, im Auftakt zum Lenz, erörtert werden muss.

ABER.

Nichts vom Schrecken dieser Tage entgeht einem. Bevor man sich äußern möchte, muss man ja mehr als eine Meinung haben, man sollte etwas wissen und auch sich damit befassen, ob und wie es richtig wäre, bestimmte Wahrheiten zu sagen oder zu verbergen. Viele sind abgestumpft durch die Hoffnungslosigkeit der einander überlagernden Schrecken, dabei übersehen sie nur, wie schnell die letzten Sturmfluten von Krieg und Verzweiflung und alltäglichem Irrsinn dem Vergessen oder der Verdrängung anheim gefallen sind. Andere picken sich einen Punkt heraus, der wird ihr archimedisches Zentrum, und dann haben sie genug zu tun, bzw. nicht zu tun, aber zu bereden. Und selber? Manchmal schäme ich mich, in wichtigen Dingen gerade nichts zu sagen, nur zu beobachten. Aber, wie schon mehrfach geäußert, Meinungen zu haben und zu sagen, reicht nicht. Und will man handeln, muss man kommunizieren, auch wenn man das partout nicht mehr über sich bringt.

*

Das mag euch nicht passen als Osterbotschaft eines Blogs. Versteh ich, ich bin auch missmutig über die unerträgliche WIRKLICHKEIT DIESER TAGE UND WOCHEN. Die Wirklichkeit hat den Nachteil wirklich zu sein, den Vorteil, das was als religiös oder ideologisch verbrämte WAHRHEITEN auf uns niederregnet, jetzt gerade zu Pessach, Ostern und im Ramadan mit den besonderen Heucheleien. Aber ein Blog verbreitet ja auch keine Botschaften…

Wachen Auges wegschauen von dieser Wirklichkeit. Das erlaubt, Glückwünsche anzubringen, Feiertagswünsche, Genesungswünsche, das erlaubt vor allem, sich nicht von den Müllbergen des „Engels der Geschichte“ zudecken zu lassen. Anstatt zu verzweifeln resignieren, das hat so wenig Sinn.

Ich schreibe heute bewusst keine FEIERTAGSGRÜSSE, sondern tauche einfach unter die Stimmung, unter den Ärger über Unfähigkeiten und unerträgliche Ereignisse hinweg. Vielleicht ist es ganz gut, angesichts der extrem kurzen Zeitspanne, die uns für Politik, Klima, Frieden und Überleben bleibt, einmal den Atem anzuhalten und sich mit dem, was uns umgibt, abzugeben. Uns mit der Erinnerung abzufinden und zu schauen, was man davon in die kurze Zukunft mitnehmen kann. Das ist keine schlecht Stabilisierung des fragilen Selbst in einem Frühling, der ja noch ganz normal sich anbietet, schaut man bloß aus dem Fenster. Dreht man die Predigten in den heuchlerischen Medien ab und hört Musik, wiederholt, was sich einem eingeprägt hat und die Zukunft noch beleben soll, solange wir überleben.

*

In der Apokalypse geht es ziemlich ruppig zu vor dem Jüngsten Tag, vor dem Ende der bisherigen gelebten Welt. Wie ich dazu komme? Viele Jahre bin ich auf dem Schulweg an einer Statue vorbeigekommen, wo der Anfang des 12. Kapitels auf latein eingemeisselt war „Signum magnum apparuit in caelo…“, Die mit der Sonne bekleidete Frau, den Mond unter den Füßen, sollte ein Kind gebären…Was man selten weiter gehört und gelesen hatte, war die Fortsetzung des Kapitels, der Kampf zwischen dem Himmel und dem Drachen und seinen Engeln, die (natürlich) nicht siegen durften. Der Rest des Kapitels stand natürlich nicht auf der kitschigen Steinfigur. Das Kapitel findet sich aber verarbeitet in der Literatur, im Bewusstsein aller „Endkämpfe“ und „Endsiege“, es liest sich gut für diejenigen, die die jetzige Wirklichkeit in diese Offenbarung des Endes einschreiben wollen. es gibt eine Menge Politiker, die sich selbst ermächtigen, ein Ende herbeizuführen oder zu verzögern, die aber nicht wahrnehmen, was sie auf ihrem Weg dahin anrichten, wenn sie töten, foltern, vernichten. Dass sie selbst Teil dieses Endes sind, fällt ihnen so wenig auf wie ihren Gegnern, die eine vergleichbare Logik verwenden, anscheinend mit der besseren Wahrheit gerüstet.

Putin der Wiedergänger, die orthodoxen Sekten am Tempelberg, die Palästinenser…die Aufzählung findet in der Apokalypse ihre dramaturgischen Rollenbilder, auch im Alltag, gerade dort. Es ist nicht schwer, sich von diesen Rollenbildern zu lösen, es wird nicht mehr gespielt, das ist alles wirklich. Und hat den Vorteil, dass es auch dann wirklich bleibt, wenn man gerade nicht hinschaut.

Deshalb schaut einmal für den Augenblick des Frühlingstags, des Pollenflugs, der jungen Füchse im Park nicht hin, sondern lasst euch im Halbschlaf des Frühlingserwachsen sein. Früh genug werden wir gefordert sein, wieder zu handeln, immer und gleich, die Gefahren sind im Augenblick anderswo größer, die Risiken werden aber auch bei uns gesponnen.

Für einen Augenblick reicht es, die Meinungen beiseite zu schieben. Die Wirklichkeit kommt schon wieder in unsere Aufmerksamkeit, vergönnt ihr die Pause eines hellen Tages: was wir da erinnern, kann auch noch morgen sein, ?übermorgen, ?wie lange noch. Das ist nicht so schlecht.

Nachsatz: wer meint, das sei eine verschwiemelte, verdeckte Predigt, ein Hilferuf in der Ausweglosigkeit gewesen, irrt. Man kann auch erklären, warum die KlimakleberInnen etwas Unrichtiges tun, aber um so viel näher an der Wirklichkeit sind als ihre Kritiker; man kann erklären, warum sich die Debatte so leicht ablenken lässt, neben 2 Millionen Fussballexperten haben wir jetzt 10 Millionen Schlachtenfachleute, neben den armen Kindern geht es doch den Meisten besser als je zuvor…und wie lange was wie anhält? Darum gehts in meinem kurzen Artikel. Sich verkürzende Zeitspannen beschädigen das Bewusstsein.