Die Fähigkeit der Invasoren, Glück zu verheißen und es letztlich zu zerstören, ist unermesslich. Das eint die „Großen“, auch wenn sie sonst unvergleichlich sind. Manche Länder sind besonders von der Unglückspolitik betroffen, andere vielleicht weniger. Aber es bleibt dabei: wer den andern überfällt und ihm dabei Glück verheißt, schafft Unglück.
Kaum ein Land ist so lange unglücklich gemacht worden, wie Afghanistan. Seit mehr als 50 Jahren haben sich „Andere“ darum bemüht, das bislang nie kolonisierte Land unter Kontrolle und vor allem in ihren Machtbereich zu zerren, was jeweils innenpolitisch so nie gesagt werden durfte oder, bei uns, wirkungslos behauptet wurde.
Dass man den jeweiligen Invasoren immer wieder, teilweise, kritisch, mulmig, oder aber hoffnungsfroh gefolgt ist, hat viele Gründe. Auch ich muss mit Bedauern meine anfänglich recht einseitige auch aktive unkritische Unterstützung der westlichen Staatsbildungspolitik Afghanistans nach der Petersberger Konferenz 2001 relativieren. Ich war nicht wichtig, also bleibt es fast überall beim einseitigen, selbstkritischen Diskurs, und wo es praktisch war und wurde, war es auch besser. Aber in der Retrospektive, nach der Niederlage der USA und damit auch Deutschlands 2021, ist die zwanzigjährige Verheißung von Glück und die Herstellung von Unglück schon eine Belastung. Die Zeit davor war das auch, nicht nur bis zur Niederlage der Sowjets und Russen, auch die Zeit dazwischen. Drei Generationen, mindestens, und wenn es noch Hoffnung gibt, dann ist die so komplex begründet, dass keine Erwartung sie trifft: dass Afghanistan sich von den Taliban befreit und den Versuch erneuert, ohne zu verhungern und zu verblöden, eine tragfähige demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen.
Woher kann man das wissen? Erfahrungen haben eher ein zwiespältiges Resultat gebracht, wie man in einem Archiv gut belegt nachvollziehen kann. Man muss erst einmal die Phantasien, Lügen oder schlicht Unwirklichkeiten vieler Selbstbezüge abbauen, um zu verstehen, was wirklich geschah und wer woran beteiligt war. Forschungen sind, wenn es sie gibt, oft besser, aber spärlich, und auch hier muss die Quellenlage studiert werden, sonst wäre die Sicht z.B. der Bundeswehr und der humanitären Hilfsorganisationen vordergründig unverständlich.
Diese Einleitung ist mir so wichtig wie die folgende Besprechung des Buches eines guten Bekannten, der den schmalen Pfad geht, die Wirklichkeit über die konstruierten Wahrheiten zu setzen.: Reuter, Christoph (2023): „Wir waren glücklich hier“. Afghanistan nach dem Sieg der Taliban. – Ein Roadtrip. DVA/Spiegel, München
Da schreibt einer, der schon viele Konflikte und Krisenherde bereist hat, der viel wahrgenommen hat und gegen die Lüge über das Beobachtete anschreibt. Das heißt zunächst anschaut, erklärt, vor allem die Hintergründe ermittelt.
Warum muss man in Deutschland viel über Afghanistan wissen? Weil wir schon vor 2001, vor der Bonner Konferenz, in diesem Land involviert waren, wenn man so will, seit über 100 Jahren, und jedenfalls immer „Rollen“ gespielt haben, die weniger mit den Menschen in Afghanistan zu tun hatten und mehr mit der (vermeintlichen, angestrebten) deutschen Rolle in der Internationalen Politik. Auch ein Thema. Aber seit 2001/2 waren wir ja Kriegsteilnehmer, mehr noch als davor im Kosovo, und das Verhalten 2021, beim Sieg der Taliban und im Vorfeld des Ereignisses, wirft ein grelles Licht auf die deutsche Politik, mit all ihren Lichtpunkten in der Zeit, die ja auch dazugehören.
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Reuter, erfahren, ein Kenner des Landes, nutzt den äußeren Frieden – ja, Frieden – unter den neuen Herrschern, um Routen und Orte kennenzulernen, die ihm vorher verwehrt oder schwer zugänglich waren. Dass der Frieden keine Freiheit in einem Unrechtsstaat bedeutet, weiß er auch. Und wie es sich bei einem Roadtrip gehört, beschreibt er mit journalistischer und fast ethnologischer Präzision, was ihm dabei begegnet und widerfahren ist. Kaum jemand interessiert sich für das Leben der Gesellschaft nach dem Abzug der meisten Deutschen und dem Verbleib vieler Ortskräfte, die ihrem Schicksal rechts- und moralwidrig überlassen werden. Die Geschichte ist mit den parlamentarischen Untersuchungen und der Enquete nicht beendet, aber die meisten Medien haben Afghanistan längst vergessen. Und wie kaum ein anderer lenkt Reuter unseren Blick auf die Wirklichkeit unter den Taliban und die Vorgeschichte von deren zweiten Sieg, nach dem ersten 1995 -2001, ohne den wir vielleicht gar nicht an der neuen Republik mitgewirkt haben. Der historische Teil, immer wieder aufgerufen, das ist ja kein Geschichtsbuch, bringt einige schwer erträgliche Wahrheiten: Im 2. Kapitel „Ins Herz des Wahnsinns – meine erste Reise nach Afghanistan“ werden die Folgen amerikanischer Lügen, Verschleierungen und absurder Gewalt gegen die Bevölkerung beschrieben. Gebündelte Wirklichkeit: „Dass die USA die Welt nach ihrem Willen formen konnten hatten die Taliban schmerzhaft gelernt in jenen mörderischen Wochen Ende 2001…Dass aber die USA nun in gleicher Manier, nur ohne wirkliche Antagonisten fortfuhren, sollte zum Auftakt ihres Untergangs fast zwei Jahrzehnte später werden“ (S. 43). Diese These habe ich spät, aber schon früher geteilt (Daxner 2017), und Reuters Detailkenntnis stützt die Vorwegnahme der amerikanischen, westlichen, internationalen Niederlage.
Historische Einblendungen kommen auf dem Roadtrip immer wieder vor. Sie sind verbunden mit früheren Reisen, Begegnungen, persönlichen und politischen Wahrnehmungen. Es ist geradezu befreiend zu lesen, dass bei detaillierten Schilderungen der Erfahrungsschichten in Kunduz die Geschichte des unsinnigen Verhaltens der Bundeswehr unter Oberst Klein, der dafür zum General befördert worden war, genau geschildert wurde. Das humanitäre Ansinnen von Reuter und seinem Fotografen Mettelsiefen hat zur Wahrheit der Beschreibung und zur Anteilnahme am Tod von über 90 Menschen geführt. Die Ausstellung an verschiedenen Orten, auch Potsdam, war ein Teil der Befreiung durch die Wirklichkeit vor der staatlich verordneten Wahrheit, also der Lüge über den Vorfall am 4.9.2009 und seine Vor- und Nachgeschichte(n) (Mettelsiefen 2010, Reuter 2010). (S. 181ff.). Das wird nun in eine Geschichte der Wiederkehr eingebettet, sie „suchten nach den Spuren der Deutschen“, S. 187). Der Roadtrip kann ohne die Schnittpunkte zur Geschichte und den relevanten Ereignissen, wenn es sich um bekanntes oder Neuland handelt, nicht gefahren werden. Und jetzt war Reuter da und berichtet über das deutsche „Intermezzo“, „Nun lag die Stadt abermals da wie vor den dramatischen 80 Jahren zwischen Glorie und Grauen“ (S.198). Vieles trifft sich mit anderen Erzählungen von Kunduz, Reuter erwähnt Schir Chan Nashir, und Nadia Nashir, die vor wenigen Tagen gestorben ist, hat von ihrer lokalen Geschichte und von ihren Schulprojekten dort berichtet (Vgl. Nadia Nashir Karim, Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023). Reuter benutzt jeden erlebten Aufenthaltsort zum Anlass einer Geschichtserweiterung, oft auch Geschichtskorrektur. Und so fährt er auch dorthin, wohin man von Kabul aus seit vielen Jahren in der „befreiten“ Republik immer weniger fahren konnte. Manches kannte ich aus den frühen Jahren in Afghanistan, natürlich Mazar, Asadabad, und sehr früh Kandahar. Aber dass Reuter jetzt auch nach Nimruz vorgedrungen war, nach Ghormatsch im Nordwesten, das ist schon ein Erlebnis, das man sich selbst gewünscht hätte.
Soweit der allgemeine Roadtrip. im äußersten Südwesten, Seine spezielle Qualität aber ist die Kommunikation am Wegesrand, bisweilen von Taliban, Polizei, festgehalten, bisweilen so friedlich und gastgeberisch aufgenommen, wie das eben in der Zeitlücke des noch nicht ganz gefestigten autoritären Regimes geht – das kann der erfahrene Journalist und Reisende besser als viele Experten sich vorstellen zu können, weil sie ihren Berichten im Vorab trauen müssen. Die Wirklichkeit ist oft unglaubwürdig, aber eben wirklich. Das wird unterstützt durch die Bezugnahme auf Thomas und Iris Ruttig und deren Team, wohl die langfristig noch immer beste Quelle für Information https://www.afghanistan-analysts.org/en .
Das Buch von Christoph Reuter ist, wie seine früheren Texte und Bücher zu Afghanistan, Syrien, der Ukraine, ein MUSS. Das sagt man nicht leichtfertig, ich baue ja gerade ein Afghanistanarchiv auf, voller Bücher, Dokumente, Bilder. Aber Reuters Buch ist eine Ausnahme, er gehört in eine Reihe wichtiger Quellen auch zur Selbstreflexion des Westens, was der dort verloren und nicht gewonnen hatte, vielleicht gemeinsam mit Ahmet Rashid. Die Parteinahme für die von Gewalt, Folter, Armut, Hunger bedrohten Afghanis ist nicht eine einseitige Verurteilung des Westens, sondern auch eine Beurteilung der Schwächen und Fehler afghanischer Politik. Aber da ist die Besonderheit: zwar beschreibt und analysiert Reuter viel Politisches, auch Politökonomisches, aber es geht ihm nicht um den Staat, sondern um die Gesellschaft, also notwendig ein Heraustreten aus der Vertikalsicht auf die Macht und der erlebte Nachweis, dass die Menschen in ihren sozialen Beziehungen, in ihrer Angst und Hoffnung eben nicht das „Unten“ sind, das von „oben“ gerettet werden kann (wobei ja „Oben“ dem afghanischen Staat seit Karzai vielleicht eine Übertreibung war).
An manchen Stellen seiner persönlichen Begegnungen, auch Lebensgeschichten und Zukunftsaussichten, ist es ein trauriges Buch. Weil, und das zeigen ja auch die letzten Monate, noch keine Ende des schmerzhaften Abwärtstrends in Sicht ist, der nicht erst mit den Taliban, nicht erst mit Trump und Doha begonnen hatte. Dass in diesem historischen schmerz dennoch individuelle Hoffnungen, im Bleiben wie in der Flucht, im Anpassen wie im Widerstand, erlebbar sind, ist ein gutes Mittel gegen die Arroganz der Politik, ihr Fehlverhalten und ihre mangelnden Konsequenzen auch noch schön zu reden, durch angebliches Nichtwissen, nichtkönnen und höherrangige Politische Einbindung. Reuter als Gegengift ist auch nicht zu verachten, aber das bedeutet auch sich, auf eine Lesepraxis einzulassen, die nicht bei der Aufnahme von Bericht und Bild endet.
Daxner, M. (2017). A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS.
Mettelsiefen, M. R., Christoph (2010). Kunduz, 4. September 2009. Berlin, Rogner & Bernhardt.
Forschungsbericht und Fotodokumentation nach dem Bombardement vom 4.9.2009. Vgl. Ausstellung Potsdam 24.4.2010
Blog: Michaeldaxner.com/4547 25.4.2023
Reuter, C., M. Mettelsiefen, H. Theiss (2010). Kunduz, 4. September 2009. Eine Ausstellung. Kunstraum Potsdam, 04/23-06/13/2010.